Erinnerungen an die Malerin Graziella Drößler

von Anne Linsel

Graziella Drößler - Foto © Anke Meinzen
Erinnerungen an die Malerin Graziella Drößler
 
Es war Anfang der siebziger Jahre im vorigen Jahrhundert: das Künstlerpaar Graziella Drößler und Wolfgang Schmitz zog aus dem Ruhrgebiet nach Wuppertal. Graziella Drößler begann gerade ihr Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Wolfgang Schmitz hatte schon einen Namen als Zeichner. Die Wuppertaler Galeristin Marion Grcic-Ziersch entdeckte Schmitz und organisierte eine Ausstellung seiner Arbeiten in Wuppertal, im Foyer des Wuppertaler Schauspielhauses, damals mehrere Jahre Ort für Wechselausstellungen.
 
Bei der Eröffnung dieser Ausstellung habe ich den Zeichner und die Kunststudentin kennengelernt. Es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft. Marion Grcic-Ziersch zeigte Wolfgangs Arbeiten dann auch in ihrer Wuppertaler Galerie in der Barbarossastraße. Nach ihrem Umzug 1978 nach Regensburg und später nach München hielt sie Wolfgang Schmitz als Galeristin die Treue, und bald kam auch Graziella Drößler dazu. Und mit beiden war sie freundschaftlich eng verbunden. 
Gariella Drößler. 1953 in Niedermarsberg (bei Brilon) geboren, waren ihre Lehrer an der Düsseldorfer Kunstakademie Lambert Wintersberger, Rolf Sackenheim und Erwin Heerich. 
 
Bei Heerich bewarb sie sich am Ende des Studiums als Meisterschülerin. Dazu mußte sie eine Arbeit vorlegen. Ihre originelle Idee: sie malte, skizzierte, zeichnete kleinformatige  Blätter, die sie zu einem großen Bild aneinanderklebte. Dieses Bild war wie eine Buchseite von rechts nach links „zu lesen“. Zeile für Zeile ergab sich dabei bildnerisch der Tagesablauf von Graziella Drößler: Angefangen mit der Zugfahrt von Wuppertal nach Düsseldorf mit den Brücken und oftmals alten stillgelegten Bahnhöfen  (die damalige rheinische Strecke), der Gang in die Akademie, die Wuppertaler Wohnung in der Normannenstraße mit Räumen, Türen, Treppen, Fenstern. Dann der Weg ins von der Heydt-Museum, um bei den „Vätern“ und „Müttern“ schauend zu verweilen.
 
Besonders ein Bild erregte dabei Graziella Drößlers Interesse: „Brücke über der Schwarzbachstraße in Wuppertal“, gemalt 1927 von  Carl Grossberg, dem Wuppertaler Maler der Neuen Sachlichkeit. Ein Gang zu der realen Brücke in Oberbarmen, die immer noch steht,  schloß sich an. Das alles zusammen fügte sich zu einem Lebens- und Kunst-Protokoll der Malerin Graziella Drößler. Sie schloß ihr Studium 1981 als Meisterschülerin von Erwin Heerich ab.
 

Graziella Drößler, Wolfgang Schmitz pinx. - Besitz Enno Hungerland

Danach arbeitete Graziella Drößler als freischaffende Malerin. Sie suchte weiterhin keine spektakulären Motive, sondern stellte sich der Alltagsrealität, den Landschaften, Menschen und Dingen, die sie umgaben - ob in Wuppertal, auf Reisen (z.B. in die Sowjetunion oder nach Nepal) oder in Holland, wo das Künstlerpaar ein Atelier besaß. Doch was auf dem Collagenbild nacheinander zu sehen war ihrer Abschlußarbeit der Akademie, faßte die Künstlerin in ihren neuen freien Arbeiten in der Komplexität eines einzigen Motivs auf der Malfläche zusammen: ein Blickes aus dem Fenster, auf ein Treppenhaus, auf eine Liege am Strand, auf einen Stuhl, eine Tasse, einen Tisch im Raum.
 
Graziella Drößler fing die alltäglichen Dinge des Lebens ein. Sie verwandelte sie mit kühner, eigenwilliger Farbigkeit und kraftvollem Gestus zu einem geheimnisvollen Eigenleben. Dabei spürte sie die Schönheit dieser Welt auf, die auch in den kleinen Dingen verborgen ist, oft genug auf wunderbare Weise. Diesen Blick richtete sie auch auf Menschen, die sie in ihren Portraits einfing. 
 
In  späteren Jahren arbeitet das Künstlerpaar oftmals zusammen: Sie suchen geschichtsträchtige Orte auf, um sie malend und zeichnend aus dem Vergessen in die Gegenwart zu holen. Auch hier sind es nicht die großen Dinge – es sind eher die kleinen Ereignisse in der Geschichte eines Landes oder einer Stadt, wie z.B. der Arbeiteraufstand in Essen 1920.
 
Graziella Drößlers Arbeiten wurden in namhaften Galerien und Museen ausgestellt, auch im Wuppertaler Von der Heydt-Museum. 1985 ehrte die Stadt Wuppertal die Künstlerin mit ihrem Förderpreis.
 
Graziella Drößler ist einen Tag vor Heiligabend nach schwerer Krankheit im Alter von 70 Jahren gestorben, fast sieben Jahre nach dem Tod ihres Mannes Wolfgang Schmitz.
 
In Erinnerung bleiben mir die vielen intensiven, oft kontroversen Gespräche über Kunst mit beiden, oft auch bei den traditionell gewordenen Besuchen an Heiligabend, bei denen ich viel gelernt habe. Viele Jahre lang.
Bleiben wird eine Erinnerung an den sechzigsten Geburtstag von Marion Grcic-Ziersch. Sie hatte ins Literaturhaus in München zu einer Lesung eingeladen. Die wunderbare Schauspielerin Barbara Nüsse las Gedichte von Else Lasker-Schüler. Vorn auf der Bühne stand eine Staffelei mit einem Gemälde von Graziella Drößler mit dem Titel „Der alte Tibetteppich“. Es leuchtete in seiner kühnen Farbigkeit. Es ist eines der besten ihres Werks. So, wie das gleichnamige Gedicht von Else Lasker-Schüler als eines der besten gilt.
 

Graziella Drößler, Selbstporträt 2009 - Besitz Anne Linsel

Bleiben wird auch Graziellas letzter Weihnachtsbesuch vor drei Jahren in meinem Haus. Sie erklärte meiner Enkelin Yolanda, damals elf Jahre, eine eigene Arbeit, die an der Wand hing. Einen Tag nach Graziellas Tod, Heiligabend 2023, erinnerte sich Yolanda, daß Graziella ihr damals  erklärt hatte, das Bild stelle einen Liegestuhl am Strand von Holland dar. Die elfjährige Yolanda habe ihr damals gesagt, sie erkenne auf dem Bild keinen Liegestuhl, sondern ein Pferd: da der Kopf, da der Körper, da die vier Beine. Graziella habe ihr geantwortet, es wäre schön, was sie gesagt hätte.
 
Heute, beim Betrachten des Bildes, dachte ich mir: Eigentlich ist der Unterschied zwischen einem Pferd im Galopp und einem Liegestuhl am Strand ja gar nicht so groß. Auf einem Pferd reitend, erlebt man die Welt mit den Augen, im Liegestuhl kann man die Welt erträumen. Es ist die Kunst, die sehen lehrt und die Fantasie anregt.
 
„Es sind die Werke der Künstler, die  aus der Ewigkeit, aus der bleibenden Bläue des Herzens steigen.“ (Else Lasker-Schüler)
 
Anne Linsel