Zauderzeitenwende
Druck auf Scholz wegen Raketen für Kiew
Von Lothar Leuschen
Grundsätzlich spricht es für einen Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, daß er sich sehr gut überlegt, wem er welche Waffen aus der weltweit beliebten deutschen Schmiede liefert. Mit dieser Haltung zu Raketen für Kiew hat Olaf Scholz über einen langen Zeitraum den Nerv der meisten Deutschen getroffen. Aber am 24. Februar jährt sich der kriminelle Angriff Rußlands auf die Ukraine zum dritten Mal. Viele Tausend Tote und Verletzte sowie Schäden in mehrstelliger Milliardenhöhe später jedoch verändert sich die Perspektive. Jetzt spricht sehr vieles dafür, daß Scholz nicht länger zögern sollte, den Ukrainern ihren innigen Wunsch nach Taurus-Raketen made in Germany zu erfüllen. Daß der Kanzler immer noch bremst, ist mit jedem Tag weniger verständlich. Denn sollte der Sozialdemokrat nach dem 24. Februar 2022 tatsächlich Hoffnung gehabt haben, daß mit einer moderaten Beteiligung Deutschlands an der Unterstützung der Ukraine irgendwelche sozialdemokratische zarte Bande zu Mütterchen Rußland würden bestehen bleiben können, dann hat sich das in den vergangenen fast 24 Monaten zweifelsfrei erledigt. Alle Aussagen von Wladimir Putin sprechen dafür, daß er auch Deutschland mittlerweile zu den Feinden Rußlands zählt, nebst der Nato und Polen und Finnland und Schweden und den baltischen Staaten. Ebenso eindeutig macht er keinen Hehl daraus, daß die Ukraine nur ein Zwischenziel seiner aggressiven Außenpolitik ist.
In der Ukraine geht es deshalb tatsächlich längst nicht mehr nur um die Freiheit der Ukraine. Es geht vielmehr um die Frage, wer in Zukunft in Europa das Sagen hat und welches Vokabular in den multilateralen Gesprächen vorherrscht – das der freiheitlich demokratisch Gesinnten oder das der Geschichtskorrektoren. Es ist deshalb kein Zeichen der Schwäche, seine Position nach fast zwei Jahren Krieg in Europa noch einmal neu zu justieren. Schwach wäre hingegen – und möglicherweise für Deutschland gefährlicher - wenn den klaren Worten des Bundeskanzlers vom 27. Februar 2022 nicht endlich auch klare Taten folgten. Zaudern hält die dramatische Zeitenwende leider nicht auf.
Der Kommentar erschien am 10. Januar in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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