Fragen des Judentums und des Judeseins
Sieben Essays von Jean Améry wieder aufgelegt
Im Klett-Cotta Verlag ist gerade unter dem Titel „Der neue Antisemitismus“ ein Band mit sieben Essays von Jean Améry (1912-1978) erschienen, die er zwischen 1969 und 1978 zu der Frage des Judentums und des Judeseins verfaßt hat. Hat man sie gelesen, so scheinen sie wie für den heutigen Tag verfaßt, vermerkt Irene Heidelberger-Leonhard in ihrem Vorwort zu dem Band. In der Tat wirken sie so, als wären sie ein Kommentar zu den neuen antijudaischen und antisemitischen Äußerungen einerseits und zu den Bekenntnissen, die Existenz des Staates Israels bedingungslos verteidigen zu wollen andererseits.
Wer aber war Jean Améry, der heute nahezu vergessen ist? Geboren ist er 1912 in Wien als Hans Mayer in einer jüdischen Familie, wuchs indes in einem katholischen Umfeld auf, verbrachte nach dem frühen Tod des Vaters seine Jugend in der Donaustadt, war im Buchhandel tätig und lebte im Umkreis von Wiener Literaten und Philosophen. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren verfaßte er einen Roman mit dem Titel „Die Schiffbrüchigen“, der erst dreißig Jahre nach seinem Tod veröffentlicht werden sollte. In ihm geht es um zwei junge Männer, der eine reüssiert im Leben, der andere, ein gewisser Althager versagt stets, in dem man ein alter Ego Mayers sehen kann, der an seiner Identität als Jude zweifelt, gar verzweifelt: „Nichts band ihn an das Volk, dem er zugehören mußte, nichts galten ihm ihre Werke, ihre Riten“. Er sieht das gar als seine Schuld an, „daß er nicht wußte, worin seine Zugehörigkeit zu jener Rasse bestand“.
In seinem Essay von 1977 „Mein Judentum“ - Mayer nannte sich ab 1955 in einer anagrammatischen Umkehrung seines Namens Améry - knüpft er an diese Erkenntnis der Jugend an. Gleich zu Beginn konstatiert er: Mein Judentum bestand ja nicht“. Zwar war der Vater „Volljude“, doch er praktizierte die Religion nicht, die Mutter „Christin“, aber nicht rein arisch. In seiner Jugend begegnete er in Wien Juden und so auch dem Judenhaß, so daß er las was er zur Judenfrage auftreiben konnte, gar Rosenbergs „Der Mythus des 20. Jahrhunderts“ und Hitlers „Mein Kampf“. Er habe sich wie er später in Sartres „Reflexionen zur Judenfrage“ lesen würde das „Eigenbild vom Gegner aufpressen lassen und totaliter interioisiert. Ich konstituierte mich als Jude.“
Als 1935 dann das Nürnberger Reichsbürgergesetz erlassen wurde, war ihm gezwungenermaßen und in aller Deutlichkeit klar, daß er nicht nur für die Nazis sondern auch für die Mehrheit der Deutschen als Jude galt, ausgeschlossen und in Gefahr war. Drei Jahre später, nach dem Anschluß Österreichs ans Deutsche Reich, floh er ins Exil nach Belgien, wurde im Mai 1940, als die Wehrmacht Belgien und Frankreich angriff, als „deutscher Staatsbürger“ im südfranzösischen Lager Gurs interniert, aus dem er fliehen und nach Belgien zurückkehren konnte. Dort schloß er sich der Resistance an, verteilte „wirkungslose Flugblätter“, wurde verhaftet „zum generellen Todesurteil“, das hieß Auschwitz. Der Jude war das Opfertier. Er hatte den Kelch zu trinken, bis zum allerbittersten Ende ... „und dies wurde mein Judesein.“ 642 Tage hat er im KZ verbringen müssen. Er hat es überlebt. Lange fiel es ihm schwer, von dieser „unverlierbaren Zeit“ zu reden und zu schreiben. Erst die Form des Essays versprach Rettung, es löste die Schreibhand, da es sowohl Erzählung als auch Reflexion und Existenzanalyse ermöglicht. In den 1960/70er Jahren erschienen vor allem in der Zeitschrift „Merkur“, in Zeitungen wie der Frankfurter Rundschau und im Rundfunk zahlreiche Essays, von denen wir immerhin sieben in diesem neuen Band endlich wieder lesen können. Sie machten Améry damals zu einem viel beachteten Denker und Literaten. Dennoch fühlte er sich weiter in einem Exil, lebenslänglich als ein heimatloser Jude. „Ein Judentum habe ich mir nicht erworben“ resümiert er und fährt fort: „Das einzige, was mich mit der Mehrzahl aller Juden der Welt verbindet, ist eine Solidarität mit dem Staat Israel. Nicht daß ich in diesem Land leben wollte, es ist mir zu fremd in jeder Hinsicht ... Ich bin aber den Menschen, die allein sind, verlassen von aller Welt, unablösbar verbunden.“
Diese bedingungslose Solidarität wurde jedoch für Améry, auch wenn er nicht immer der Politik der israelischen Ministerpräsidenten zustimmen konnte, zu einem Problem, er nennt hierfür das Jahr 1967. Er verstand sich seit seiner Jugend immer als Mann der Linken. Doch mit der „Neuen Linken“, die sich nun um den SDS herausbildete, geriet er in einen Konflikt.
Zuvor hatte Dank Adenauer und Ben Gurion eine Annäherung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel stattgefunden, die 1965 zu diplomatischen Beziehungen führte. Israel erfuhr von da an allgemeine Unterstützung, bisweilen auch mit einem eher unangenehmen Philosemitismus. Doch die Neue Linke unterstützte nun die palästinensische Sache, warf Israel Kolonialismus und Unterdrückung vor, setzte auf die PLO und deren „antiimperialistischen Kampf“ gegen die Besatzer. Améry litt unter dieser Wende, verzweifelte. In den Essays:„Die Linke und der Zionismus“ (1969) „Juden, Linke – linke Juden“ (1973) warf er wiederum dieser neuen Linken in ihrem Antizionismus einen verkappten, diffusen Antisemitismus vor. Auch diese nun wieder gelesenen Essays verweisen auf das neue Heute, macht sich doch seit dem Überfall der Hamas auf Israel im letzten Oktober vielerorten eine antiisraelische Stimmung breit.
Man reagierte bei Podiumsdiskussionen, an denen Améry damals teilnahm, öffentlich mit Gelächter auf seine Aussagen, Häme schlug ihm entgegen. Er war verletzt, zog sich zurück in eine Abgeschiedenheit, vereinsamte, und in einem Rundfunkgespräch gestand er, er sei einsam wie einst in Auschwitz.
Von diesem Moment an wuchs auch die stets schon vorhandene Versuchung, dem Leben ein Ende zu machen. In seinem Buch „Hand an sich legen - Diskurs über den Freitod“ schrieb er 1976: „Der Freitod ist das Privileg des Humanen.“ Am 17. Oktober 1978 wählt Jean Améry den Suizid, um vergessen zu können.
Jean Améry - „Der neue Antisemitismus“
Vorwort Irene Heidelberger- Leonard
© 2024 Klett Cotta Verlag Stuttgart, 128 Seiten, Broschur - ISBN: 978-3-7681-9828-8
18,- €
Weitere Informationen: https://www.klett-cotta.de/produkt/jean-amery
Dieser Artikel ist am 15.1.2024 in der Frankfurter Rundschau erschienen.
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
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