Wanderer, kommst du nach Sparta

von Wendelin Haverkamp

Wendelin Haverkamp - Foto Manfred Zehner
Wanderer, kommst du nach Sparta
 
Es stand in humanistischen Gymnasien im Treppenhaus an der Wand. 
Was steht heute an den Wänden von Mehrzweckhallen, die sich 
Gesamtschule nennen?
 
Wanderer kommst du nach Sparta
verkündige dorten
du habest uns hier liegen geseh’n
wie das Gesetz es befahl.
 
Ich saß Anfang Januar im verspäteten RE nach Düsseldorf und las in der Zeitung einen Artikel, in dem die Wehrbeauftragte sich in ihrer Not gezwungen sah, das Elend der deutschen Bundeswehr nicht länger durch Schönrederei zu verschleiern und die Wiederaufnahme der „Wehrpflicht“ anzuregen. Da fiel es mir plötzlich wieder ein. Es war vor mehr als 50 Jahren damals auch ein Tag im Januar, als ich in Düsseldorf in einen Nahschnellverkehrszug stieg, der mich als frisch einberufenen Rekruten in die tiefe Eifel beförderte. Sich in einer so verfrorenen Gegend stramm marschierend oder knapp über dem Boden unter Hindernissen hindurchkriechend fortbewegen zu müssen, und das sowohl im tiefem Schnee als auch durch verregneten Schlamm, hatte ich bis dahin für theatralisch übertrieben gehalten. Fälschlicherweise, wie sich in den folgenden Monaten herausstellte. Aber das war nicht das Problem an jenem Tag. Ich war gerade von einer längeren Reise nach Dublin zurückgekehrt, die ich unmittelbar nach dem Abitur angetreten hatte, will sagen: Ich war grün hinter den Ohren und mitnichten das, was ein sogenanntes „Reifezeugnis“ vorgibt, bescheinigen zu können. In aller Regel sind Zeugnisse ja ein kaum interpretierbarer Ausdruck von gesammelten Irrtümern. Ich aber war von den Bildern, Eindrücken und Erlebnissen meiner Reise noch ganz benommen.

Einige Zufälle, der zweite Weltkrieg und ein Freund meines Vaters namens John H. waren schuld. Die beiden kannten sich aus ihren Studienzeiten in den 30er Jahren. Ich lernte ihn in Basel auf der Rückreise von Zürich kennen, wo ich meinen Bruder und bei der Gelegenheit auch das Grab von James Joyce besucht hatte, dessen Bücher mich damals verzweifeln ließen. Ich wollte mit 17 einfach nicht akzeptieren, daß sich Texte trotz intensiver Bemühung so verschlossen zeigen konnten.
John erzählte, wie er seine Frau Claire kennengelernt hatte, die aus einer jüdischen Familie in Aachen stammte. Gemeinsam mußten die beiden aus Deutschland fliehen und strandeten nach langer Reise quer durch Europa in Dublin. Nach dem Ende des Krieges zogen sie in die Schweiz, weil Claires Mutter, deren Familie fast vollständig in Vernichtungslagern umgekommen war, nicht mehr in Deutschland leben wollte. Immerhin, Basel lag in der Nähe der alten Heimat, und die deutsche Sprache war nicht weit.
John war literarisch beschlagen, und so kamen wir irgendwann fast zwangsläufig auch auf James Joyce zu sprechen. Er berichtete, daß ein kleiner literarischer Kreis von deutschen Exilanten, dem auch er angehörte, damals mit Joyce Umgang hatte. Ich erzählte ihm, daß ich aufgrund meiner Lektüre bei nächster Gelegenheit unbedingt Dublin kennenlernen wolle. Was dazu führte, daß er mich Freunden dort empfahl, von denen ich postwendend eingeladen wurde. Es war wie im 18. Jahrhundert: Man bekommt ein Empfehlungsschreiben, reist an und ist willkommen.

Ludwig und Eva B. nahmen mich so freundschaftlich als ihren Gast auf, als sei ich ein enger Verwandter, und ich konnte daraus erschließen, wie eng das Geflecht, wie stark das Vertrauen der Geflüchteten untereinander damals gewesen sein mußte, wenn es nach so vielen Jahren noch Bestand hatte. Ihre Lebensgeschichte bildete eine Parallele zu der, die John von sich und seiner Claire erzählt hatte. Ludwig und Eva waren gerade noch rechtzeitig von Wien aus über Italien nach Paris geflohen, wo sie heirateten, und dann weiter über England nach Irland gekommen. Im Unterschied zu John, seiner Frau und ihren Töchtern blieben die beiden aber nach Kriegsende in Dublin.
Ludwig war Altphilologe, anerkannter Wissenschaftler an der Wiener Universität und ein wacher Kopf. Ihm war klar, was der Slogan „Heim ins Reich“ für ihn bedeuten würde. Als die Deutschen 1938 über die Grenze marschierten, wurden sie von vielen Österreichern bejubelt, Ludwig aber verlor seine Stelle an der Universität, und das nicht nur wegen seiner konträren politischen Einstellung, durch die er sowieso an der Universität angefeindet wurde, sondern auch und vor allem wegen seiner jüdischen Lebensgefährtin.
Es gelang ihnen nur mit viel Glück, nach Italien auszureisen; ein müder Zollbeamter erkannte im Halbdunkel des Zuges nicht, daß die Pässe keine Gültigkeit mehr hatten. Ich erinnere mich gut daran, wie Ludwig mir die Ängste jener Nacht beim Grenzübergang nach Italien und den Verlauf der weiteren Flucht schilderte; vielleicht auch deshalb, weil ich mich in diesem Moment selbst in einer Ausnahmesituation befand. Ludwig saß beim Erzählen auf seinem Lieblingssessel im Halbdunkel neben dem Fußende meines Krankenbettes bis tief in die Nacht, und das kam so. Natürlich hatte ich mir die Ruinen des Klosters Glendalough mit seinem Rundturm angesehen, das der Heilige Kevin im 6. Jahrhundert gründete; viele Deutsche, die ihr Kind heute Kevin nennen, würden staunen über all das, was sie dabei nicht wußten. Natürlich hatte ich auch die Pianospieler und ihren Guiness-Verbrauch in den Dubliner „Singing Pubs“ bestaunt und war zur Halbinsel Howth gepilgert, um vom Hügel aus mit einem kräftig geschmetterten „Introibo ad altare Dei“ einen Ulysses-Gedächtnis-Rundgang zu starten.

Und natürlich hatte ich das „Book of Kells“ bestaunt; es entstand um 800 zu der Zeit, in der Karl der Große den Aachener Dom bauen ließ, vermutlich im Kloster Iona an der Ostküste Schottlands. Es wurde dann erst vor den Wikingern in Irland versteckt, anschließend gestohlen und endlich im Kloster Kells wiedergefunden. Die filigranen keltischen Muster und die immer noch leuchtenden Farben beeindruckten mich sehr, ich genoß das Privileg, das Original komplett und so lange ich wollte anschauen zu dürfen. Denn Ludwig hatte den Schlüssel zum Tresor des „Trinity College“. Man hatte in Dublin extra für ihn einen Lehrstuhl für Paleographie eingerichtet, und die Handschriften der irischen und schottischen Klöster gehörten zentral zu seinem Arbeitsgebiet. Dann wurde ich plötzlich krank; ein Drehbuch hätte das nicht passender arrangieren können. Ich bekam hohes Fieber und wurde von meinen Gastgebern umsorgt. Eva adoptierte mich quasi und alarmierte sofort die „deutsche“ Hausärztin, die aber eigentlich keine war. Wie ich später erfuhr, war sie zwar Krankenschwester, vor allem aber die Witwe eines aus Deutschland geflohenen Arztes, der auch zu dem kleinen deutschen Zirkel in Dublin gehörte und lange Zeit die medizinische Anlaufstation war. Doch was sie mir verabreichte, kümmerte mich nicht; ich wußte mich in den Händen meiner Gastgeber sicher aufgehoben, und es half.
Mir auf jeden Fall wurde klar, was ich alles nicht gewußt und schon gar nicht bedacht hatte: Wie eng diese deutschen Flüchtlinge in Irland damals zusammengehalten haben mußten, daß so viele Juden unter ihnen waren und vor allem, welch große Rolle Kultur und Sprache dabei spielten. Vor allem aber eröffnete sich mir in unseren Unterhaltungen eine Ahnung von dem aberwitzigen emotionalen Widerspruch, in dem sich die Abscheu vor einem gewalttätigen, niederträchtigen Deutschland, die Sehnsucht nach der heimatlichen Sprache und die Erinnerung an die eigene Kindheit gegenüberstanden.

Allerdings zog sich meine Gesundung hin, und so, wie man im Gang eines Schlafwagens am Fenster stehend mit zufällig Mitreisenden ins Gespräch kommen und in wenigen Minuten bei den wichtigsten Dingen zwischen Kunst und Leben landen kann, ergaben sich zwischen uns wie beiläufig Gespräche, die sonst, von ihrem eigenen Gewicht erdrückt, nicht stattfinden können. Ich im Bette liegend, Ludwig davor sitzend, gern mit einer Flasche Cognac in der Hand, ich mit Kamillentee. Daß uns beide vier Jahrzehnte Leben trennten, löste sich im Transitbereich des Krankseins auf. Es spielte keine Rolle. Was wir uns zu erzählen hatten, war frei gedacht, offen gesagt und echt empfunden.
Ludwig war ein phantastischer, wissender Erzähler. Er vermittelte mir die Bedeutung Irlands für die europäische Kultur, von der ich so gut wie nichts gewußt hatte und wobei ich zum erstenmal bedauerte, meine 9 Jahre Latein und 6 Jahre Altgriechisch nicht besser genutzt zu haben. Dabei sprachen wir viel, es ergab sich einfach aus dem Kontext, über Deutschland und die deutschen Juden, über Politik und Religion in Vergangenheit und Gegenwart und ganz konkret über unsere eigenen Familien.
Auch erzählte ich, ich mußte es erzählen, daß ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland bald als Wehrpflichtiger zum Militär gehen müsse und mir nur zwei Wege plausibel schienen, das Richtige, also etwas für den Frieden zu tun: Entweder den Wehrdienst zu verweigern oder das Beste aus diesem Dienst zu machen.
Aber ich hatte Angst, das zu sagen. Ich befürchtete, daß die Vorstellung, mich als deutschen Soldaten in Uniform zu sehen, für Eva oder Ludwig angesichts ihrer Geschichte unsere Freundschaft beschädigen könnte. Wer unter Lebensgefahr quer durch Europa vor deutschen Uniformen geflohen war, mochte davon unheilbar sensibilisiert sein. Aber das Gegenteil war der Fall. Eva wollte mich beschützen. Sie war entsetzt, weil sie mich in Gefahr glaubte, und begann zu überlegen, ob ich nicht besser in Irland bleiben sollte, um dem schrecklichen Soldatentum zu entgehen. Ich könne ja in Dublin studieren und erstmal bei ihnen wohnen, bis Gras über die Sache gewachsen sei.

Meine Befürchtung, daß es nicht sinnvoll war, darauf zu warten, daß in deutschen Amtsstuben Gras wächst, war vermutlich realistischer als ihr fürsorgliches Angebot. Ludwig runzelte bei dem Thema nur die Stirn und zitierte ironisch jenen Satz, der über diesem Text steht. Für ein Mitglied der Royal Irish Academy, das fließend Latein und Griechisch sprach, eine leichte Übung.
Ich kannte die oft zitierte und oft genug auch mißbrauchte Textstelle gut. Sie stand im Treppenhaus meines altsprachlichen Gymnasiums in großen Lettern so an der Wand, wie Schiller sie verstand. Ich hatte mich schon zu Schulzeiten mit der Frage auseinandergesetzt, ob das Verhalten des Leonidas an den Thermopylen zur Nachahmung zu empfehlen war, oder ob doch die Thebaner mit ihrer Kapitulation in letzter Minute die Vernünftigeren waren. Was mir allerdings zu einer Zeit, in der man Marcuses „Ethik und Revolution“ diskutierte, nicht weiterhalf. Mehr als 50 Jahre später weiß ich, wieviel es mir bedeutet, eine jüdische Freundin gehabt zu haben, die mir all das, was ihr von Deutschen angetan wurde, nicht zurechnete. Sie klammerte mich aus dem Geschehen aus, indem sie mich gern hatte; sie wählte den für sie einzig möglichen, emotionalen Weg. Es war fast, als ob wir gemeinsam auf der Flucht vor der unbezwingbaren Tragik der Realität waren. Neulich fand ich beim Aufräumen in einem alten, vielfach umgezogenen Karton einige der Briefe, die sie mir in die Kaserne schrieb. Wunderbare, herzlich besorgte Briefe; um ihren Wert wirklich erkennen zu können, hatte ich damals noch nicht lang genug gelebt.
Demonstrativ beäugte der Spieß, der täglich vor angetretener Kompanie die Post öffentlich verteilte, umständlich die merkwürdigen Umschläge mit noch merkwürdigeren Briefmarken, und brüllte den Namen des Empfängers über den Kasernenhof. Mit der Folge, daß mich die neuen Rekruten der Kompanie zu ihrem Sprecher wählten. Was sollten sie sonst auch machen? Mein Name war der einzige, den sie alle kannten – durch die Briefverteilung beim Morgenappell.
Als ich unlängst die unfaßbaren Bilder aus dem ukrainischen Butscha sah, wußte ich endgültig, daß meine damalige Entscheidung, den Militärdienst nicht zu verweigern, richtig war. Insofern fühle ich mich heutzutage als Ukrainer und bewundere ihre Tapferkeit und ihre Motivation. Aber ebenso gilt: Als 1941 die deutsche Wehrmacht Leningrad einkesselte, um eine Million Menschen dort elend verhungern zu lassen, wäre ich Russe gewesen.

Die Struktur der antiken Tragödie hat sich ja nicht verändert, wir machen sie uns nur nicht mehr klar. Als die Hamas Israel überfiel, vermischten sich meine Erinnerungen mit aktuellen Berichten, und die alten Fragen und Gespräche schossen mit ihren darin unauflösbaren Widersprüchen aus dem Halbdunkel wieder ins Licht.
Der Versuch, Frieden herzustellen und zu erhalten, ist unsere vielleicht wichtigste Aufgabe, aber dazu muß man stark sein. Damit sind wir wieder bei der besagten Wehrbeauftragten. Das Dilemma des Dramas, das die Welt strukturell beherrscht, läßt sich nicht auflösen durch Omas, die für den Frieden tanzen. Und widerwärtig sind jene unwahrhaftigen Friedenspfeifen, denen in ihrer selbstgefälligen Realitätsferne der eigene moralische Narzißmus wichtiger ist als der Kampf für Freiheit und Frieden.
Trauer kann nicht in palästinensische, israelische oder ukrainische Trauer differenziert werden. Zur Tragödie gehört es, zu erkennen, daß sich unversöhnbare Widersprüche nicht auflösen lassen. Es gibt keine Gerechtigkeit, die allein dadurch eintritt, daß man sie erkennt. Die Einsicht lautet, daß man das Unaushaltbare aushalten muß, zugleich aber keinem Kampf aus dem Weg gehen darf, der nötig ist, um neue Tragödien zu verhindern.
 
© Wendelin Haverkamp
 
Wendelin Haverkamp: „Wanderer kommst du nach Sparta“ Aus einer geplanten Essay-Sammlung. 
Vorabdruck in den Musenblättern aus Anlaß der Verleihung des Aachener Karlspreises 2024