Zeugnis eines kurzen Dichterlebens
Selma Merbaums Gedichte bei Reclam
Selma Merbaum-Eisinger ist im Alter von achtzehn Jahren im Dezember 1942 in einem unter der deutschen Besatzung eingerichteten Zwangsarbeitslager am Bug gestorben. Geboren ist sie 1924, also vor einhundert Jahren. Das hat der Reclam Verlag zum Anlaß genommen, ihre 58 Gedichte neu herauszugeben, die sie in einem Album, „Blütenlese“ genannt und handschriftlich gesammelt hat.
„Ich möchte leben,/ Ich möchte lachen und Lasten heben/ Ich möchte kämpfen und lieben und hassen/ Und möchte den Himmel mit Händen fassen/ Ich möchte frei sein und atmen und schrein:/ Ich will nicht sterben. Nein! Nein..“
Das schreibt im Juli 1941 eine junge Frau von siebzehn Jahren in ihrem Gedicht „Poem“ und wird siebzehn Monate später sterben müssen. Ihre letzten Verse hat Selma Merbaum-Eisinger am 23. Dezember 1941 verfaßt, ihr Titel „Tragik“:
„Das ist das Schwerste: sich verschenken/ Und wissen, daß man überflüssig ist,/ Sich ganz zu geben und zu denken,/ Daß man wie Rauch ins Nichts verfließt.“
Der Handschrift des Gedichts hat sie einen Nachsatz hinzugefügt mit rotem Stift: „Ich habe keine Zeit gehabt, zu Ende zu schreiben.“
Geboren war Selma Merbaum 1924 in Czernowitz, jener Stadt in der Bukowina, in der Rumänen, Deutsche, Polen, Armenier, Ungarn, Ukrainer und mehrere Religionen friedlich zusammen lebten. Aufgrund der langen Zugehörigkeit zum habsburgischen Reich bis 1918 war für viele der Bezugspunkt Österreich und so nannte man Czernowitz auch „Klein Wien“. In der Stadt lebten und wirkten unzählige Künstler aller Gattungen, vor allem Dichter wie Paul Celan, Alfred Gong, Itzig Manger, Robert Flinker, Immanuel Weissglas, Alfred Kittner und Rose Ausländer.
Selmas Vater, ein Schuhhändler, starb früh, an seine Stelle trat der Stiefvater Leo Eisinger. Als Jugendliche wurde sie Mitglied des zionistischen Jugendbunds „Hashomer-Hazair“ und lernte dort ihre große Liebe, den ein Jahr älteren Lejser Fichmann kennen, dem sie viele Liebesgedichte widmete. Sie erzählen von der Sehnsucht, - „ich bin in Sehnsucht eingehüllt“-, bedingungsloser Hingabe aus Liebe – „Mein Geliebter ist der lange Weg/wir sind vermählt auf immerdar“ - aber auch von Einsamkeit - „Bist Du doch das Schönste, das Eine um das ich sie trage, die Einsamkeit“. Schon in der Schulzeit im jüdischen Mädchenlyzeum hatte sie Heine, Rilke, Klabund aber auch Verlaine und Tagore gelesen, die ihr eigenes Dichten in den Kopf gesetzt und in die Hand gelegt hatten. Und so entstanden ab 1939, da war Selma Merbaum gerade einmal fünfzehn Jahre alt, ihre Gedichte voll großer Lebenslust indes stets mit der Ahnung von Verlust. Nur Träume und die Sehnsucht sind ihr vergönnt. „Es sind meine Nächte durchflochten von Träumen“, schreibt sie in dem Gedicht „Träume.“ Denn die Zeiten waren nicht so, daß sie Erfüllung finden konnten.
Czernowitz war zum Spielball der Großmächte geworden. Nach Kriegsende 1918 wurde die Bukowina Rumänien zugeschlagen, ab 1940 übernahm die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt sie, schließlich Deutschland mit seinen rumänischen Vasallen. Am 11.Oktober 1941 errichteten sie für die Juden der Stadt ein Ghetto, ab Juni 1942 deportierten sie dessen Bewohner, so auch Selma mit der Mutter und dem Stiefvater in das Zwangsarbeiterlager Michailowka am Ufer des Bug, das der SS unterstand. Ob Selma Merbaum dort noch weitere Gedichte schreiben konnte, wissen wir nicht, denn sie mußte in einem Steinbruch und beim Straßenbau arbeiten. Wir wissen aber, daß sie versucht hat, mit Hilfe eines Bewachers, aus dem Lager zu fliehen, wie der Maler Arnold Daghani, der ebenfalls dorthin deportiert war, erfahren hatte. Doch gelungen ist es ihr nicht. In einem letzten Brief, den sie aus dem Lager schmuggeln kann, schreibt sie an eine Freundin: „Jetzt ist es zu viel. Ich halte nicht mehr durch. Ich breche zusammen.“ Am 16. Dezember 1942 stirbt sie völlig entkräftet aufgrund der Fronarbeit und einer Typhusinfektion. Arnold Daghani hat sie, in eine Decke gehüllt, auf dem Totenbett gezeichnet, letztes Zeugnis eines kurzen Dichterlebens. Von nur achtzehn Jahren.
Selma Merbaum-Eisinger - „Blütenlese - Gedichte“
© Reclam Verlag Ditzingen, 136 Seiten, Broschur - ISBN: 978-3-15-019059-3
5,80 Euro
Weitere Informationen: www.reclam.de
Dieser Artikel ist erstmals am 5.2.2024 in der Frankfurter Rundschau erschienen.
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
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