Aller Anfang ist leicht

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Aller Anfang ist leicht
 
Aller Anfang ist schwer“. So steht es in dem Epos in neun Gesängen mit dem Titel „Hermann und Dorothea“, in dem sein Autor, kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe, am Ende des 18. Jahrhunderts dem Leser noch weitere Weisheiten mit auf den Lebensweg gibt. „Vieles wünscht sich der Mensch, und doch bedarf er nur wenig“ zum Beispiel oder „Niemand weiß, wie lang er es hat, was er ruhig besitzet.“ „Hermann und Dorothea“ ist kurz nach der Französischen Revolution und in Betrachtung ihrer Auswirkungen geschrieben worden, weshalb das Eingangszitat falsch erscheint und eher sein Gegenteil zutrifft. Der Anfang der Französischen Revolution war nicht schwer, er war vielmehr leicht. Das alte Regime hatte abgedient, seine Willkür unerträglich und die Unzufriedenheit der Bürger nicht mehr zu bändigen. Da marschierten die Leute los - ohne wirklich zu wissen, was sie am Ende erreichen und in Händen halten wollten. Aller Anfang ist leicht, nur das Ende ist schwer, möchte man dem Dichter zurufen, wenn er noch auf Erden weilen würde, und hinzufügen, daß diese leichte Weisheit umfassend gilt. Natürlich ist der Anfang schwer, wenn man sich etwa im Geigenspiel üben oder lernen will, einen Fußball so zu stoppen, daß man ihn vor sich liegen hat und weiterspielen kann. Und ebenso fällt es einem Schreiber gewöhnlich schwer, den ersten Satz aufs Papier zu bringen, was nicht zuletzt daran liegt, daß es ausgerechnet Schriftsteller sind, denen das Schreiben schwer fallt, wie Thomas Mann wiederholt geäußert und in seinen Tagebüchern festgehalten hat. Aber es gibt eine Fülle von Abläufen und Verhaltensweisen, da ist aller Anfang leicht und nichts anderes. Es ist zum Beispiel leicht, sich eine Diät vorzunehmen, damit zu beginnen, auf das Rauchen zu verzichten, sich endlich an die Lektüre des großen Romans zu machen, den man sich schon länger vorgenommen hatte, und so weiter. Es ist nur schwer, dabei durchzuhalten. Auch die längste Reise beginnt mit dem ersten Schritt, und der ist vor allem dann leicht, wenn er nur in der Planung besteht und das Kofferpacken mit seinen Entscheidungen noch in der Zukunft liegt, wobei beim Auswählen des Mitzunehmenden am Anfang alles leicht fallt, weil noch viel Platz zu vergeben und zu füllen ist. Aller Anfang ist schwer - das klingt nach einem moralischen Zeigefinger. Aller Anfang ist leicht - das klingt nach Frohsinn und Lust auf Zukunft. Mit ihrer Gestaltung anzufangen lohnt sich. Es ist am Anfang leicht.
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.