Hinein in die Stadt, hin zur Natur

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Hinein in die Stadt,
hin zur Natur
 
Sesarn, öffne dich“, so klingt es in einem Märchen aus dem Morgenland, und jeder Leser kennt den Grund für diesen Ruf. Wer ihn ausstößt, der möchte hinein in das vor ihm liegende Verschlossene, das als Paradies erträumt wird. Der polnische Aphoristiker Stanislaw Lec hat mit hübschen einer Variante des Wunsches in den 1960er Jahren auf die Nöte des real existierenden Sozialismus hingewiesen, in dessen Bereich er lebte und in dem man ihm ein Paradies auf Erden versprochen worden war, das sich allerdings nicht zeigen wollte: „Sesam, öffne dich, ich möchte hinaus!“, meinte schließlich der Dichter. Es kann also immer mal wieder vorkommen, daß man die Laufrichtung umkehren muß, um an das erträumte Ziel zu kommen, und in den letzten Jahren haben die Menschen in vielen Ländern dafür ein klassisches Beispiel vorgeführt bekommen. In den 1960er Jahren, als Lec im Osten den Wunsch aus dem Märchen in sein reales Gegenteil verwandelte, verkündeten viele sozialphilosophische Denker im Westen den Tod der Städte oder beklagten zumindest ihre die Lebensfeindlichkeit. Die Betonwüsten mit ihren Bausünden schienen keinen Ort zum Leben abzugeben. Der Psychiater Alexander Mitscherlich beklagte sich über „Die Unwirtlichkeit der Städte“, und der Verhaltensforscher Konrad Lorenz beschimpfte sie als ein „Krebsgeschwür“. Beide sahen in den dicht besiedelten Ballungsorten das „Produkt des Todestriebes unserer Zivilisation“, und sie würden sich sehr wundern, wenn sie heute noch ihre Augen aufmachen und das Gegenteil erleben könnten. In diesen Tagen würden sie nämlich sehen, daß die Natur dabei ist, sich ihren Lebensraum in der Stadt einzurichten. Auf dem Land bleiben will sie jedenfalls nicht mehr, wie immer mehr zu sehen ist. In den Vorgärten zeigen sich Wildschweine, Waschbären machen sich an Mülltonnen zu schaffen, Füchse durchstreifen Gärten, in Berlin brüten die meisten Nachtigallen und in Teilen von München lassen sich so viele Schmetterlinge wie in den besten Naturschutzgebieten finden und zählen. Nachzulesen ist das alles in dem Band „Stadtnatur“, den der Zoologe Josef Reichholf vor einiger Zeit verfaßt hat und für den er verdientermaßen zuletzt mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa ausgezeichnet worden ist. Reichholf teilt dem überraschten Leser unter anderem mit, daß der Baumbestand in Städten selbst artenreiche Auwälder übertrifft, was die Vielfalt angeht. Dabei zieht die Natur nicht in die Stadt, weil es dort so schön ist. Sie geht diese Richtung, weil es auf dem Land so schrecklich geworden ist, wie Reichholf festhält. „Hinaus auf das Land, hin zur Natur“. Dieser Ruf lockte früher. Heute hat er sich umgekehrt. Hinein in die Stadt, hin zur Natur. Mit anderen Worten: „Sesam, du brauchst dich nicht zu öffnen.“ Wir sind schon dort, wo wir hin wollen.
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.