»Woher weiß ich, was wahr und was Täuschung ist?«

Alcina von Georg Friedrich Händel im Barmer Opernhaus

von Johannes Vesper

Foto © Bettina Stoess

»Woher weiß ich, was wahr und was Täuschung ist?«
 
Alcina von Georg Friedrich Händel. Premiere im Barmer Opernhaus
 
Von Johannes Vesper
 
»Woher weiß ich, was wahr und was Täuschung ist?« Alcina von Georg Friedrich Händel. Premiere im Barmer Opernaus Von Johannes Vesper Diese Oper von 1735 entfaltet ihre Wirkung heute, diente doch die Beschwörungsarie der Alcina als Aufhänger für Commissario Brunettis 5. Fall (Aqua Alta) von Donna Leon. Die Uraufführung der wohl wichtigsten Oper Händels (42 Opern 25 Oratorien u.a.) im April 1735 war ein Riesenerfolg. Dann lange vergessen, wurde sie aber in Wuppertal 1981 (Hanns-Martin Schneidt, Friedrich Meyer-Oertel, Hanna Jordan) und 2014 (Boris Brinkmann, Johannes Weigand zum Abschied, Moritz Nitsche) aufgeführt.
 
Die höchst komplizierte Story spielte ursprünglich auf der Zauberinsel Alcinas im Mittelmeer am Ende des achten Jahrhunderts. Im Barmer Opernhaus wird aus dieser Insel die Seele, die Gefühlstiefe, der Kern aller Erinnerungen der titelgebenden Alcina. Und durch gelegentliches Öffnen zweier Doppeltüren wird links der Blick in den Hausflur mit Aufzugtelefon und hinten in ein Wohnzimmer mit Landschaftsgemälde an der Wand frei. So wird aus der Räuberpistole des „Rasenden Roland“ von Ariost ein zeitloses Psychodrama. Durch die gleichzeitige Darstellung vom Innenleben der Psyche und des banalen Lebens im Mehrfamilienhaus hat die erfahrene Julia Burbach (Inszenierungen im In- und Ausland) eine andere, neue Perspektive auf Georg Friedrich Händels (1685-1759) „Alcina“ ermöglicht. Dazu wurde gekürzt und umgestellt, aber die Originalmusik im Übrigen unverfälscht musiziert. Worum geht es? Schon vor der Ouvertüre findet Alcina im Hausbriefkasten einen Brief, der sie psychisch umwirft. In der Oper aber verzaubert die Schöne zunächst alle Männer und lebt ihre Leidenschaften aus, bevor sie mit den phantasievoll in Blumen verwandelten, abgelegten Liebhabern die Insel ihrer Erinnerung an alle Liebschaften schmückt, immerhin ein zivilisatorischer Fortschritt gegenüber der antiken Circe, die ihre vernaschten Männer nach Gebrauch in Schweine verwandelt hat. Anfänglich landet Ruggiero bei Alcina an. In ihn verliebt sie sich ernsthaft und bezaubert ihn, sodaß er sofort Braut Bradamante und sein ganzes Vorleben vergißt. Bradamante und ihr Lehrer Melisso sind ihm aber gefolgt, sie wollen den Liebhaber für Bradamante zurückgewinnen. Alcinas Schwester Morgana reißt sofort mit schlankem elegantem wie beweglichem Sopran, souverän und ausdrucksstark bis in höchste Höhen Bradamante auf, die, verkleidet als Bradamantes Bruder, ihr höchst attraktiv erscheint. Zum ersten Mal am Abend gab es hier Szenenapplaus.
 

Foto © Bettina Stoess

Das Bühnenbild hatte sich inzwischen zu einer Architektur mit darüber projizierten Pflanzen und Bäumen gewandelt. Eifersucht, Intrige, Treubruch beherrschen diese Szene und die Tragik beginnt. Ruggiero mit seinem glänzenden Countertenor widmet sich inzwischen lieber der Jagd als den Nachstellungen Alcinas. Die Zauberin wird menschlich, beginnt, um Ruggiero nach dem Motto zu kämpfen „Bleib oder stirb“! Ihre Erfolglosigkeit dabei bejammert sie mit ausgeprägtem Vibrato zu intensivem Herzklopfen des blitzsauber fast ohne Vibrato aufspielendem Orchesters („mio cor schernito sei“ / mein verspottetes Herz...). Daß ohne Liebe selbst grüne Wiese und Wälder verdorren, besang Ruggiero lyrisch sehr beeindruckend. Als weitere musikalische Höhepunkte wurden die Arien der Morgana mit exzellenter zu Herzen gehender Solovioline (ama sospira...) sowie herrlichem Cello-Solo wahrgenommen. Später beherrschten die Hörner bei Alcinas Tigerarie souverän das musikalische Geschehen und die Piccoloflöte, wenn zum Schluß die Liebe siegt (?). Das Leben ist ein Theaterspiel, das Lieben höchst unsicher, keiner weiß mehr, mit wem er es emotional zu tun hat. Alcinas Emotionen wurden im gesamten Stück eindrucksvoll wie beweglich choreografisch-tänzerisch ausgedeutet. Alcinas Schwester Morgana, deren Namen schon die Unsicherheit der Wahrnehmung ahnen läßt, glaubt ihre Liebe zu der verkleideten Bradamante erwidert, die aber in der Parallelwelt des Wohnzimmers ihrem Ruggiero in die Arme fällt. Alle werden getäuscht. Endlich schafft ein Zauberring Klarheit und Ruggiero wird sich über seine Gefühle zu Bradamante klar, intrigiert aber und täuscht Alcina über seine Liebe, die ihn aus Rache und Enttäuschung in ein Tier verwandeln will. Die psychische Gemengelage wurde zunehmend unübersichtlicher, Schwindel nimmt zu. 


Foto © Bettina Stoess

Der Zuschauer kann bei der klaren und einleuchtenden Inszenierung der Handlung mühelos folgen. Zur Barockzeit waren die Figuren solcher Geschichten wahrscheinlich so populär wie heute die aus „Harry Potter“ oder „Der Herr der Ringe“. Verzweiflung und Resignation, Schmerz und Hoffnungslosigkeit breiten sich im 3. Akt aus. Rachegötter der Unterwelt werden beschworen, deren bleiche Schatten aber weder erscheinen noch helfen Zuletzt nehmen alle oft wirklich groben Beschimpfungen, Enttäuschungen und Konflikte bürgerlich rational ein Ende und Ruggiero kehrt zu Bradamante zurück. Alcina hat ihre verschmähte Liebe verschmerzt und tritt erhobenen Hauptes vorbei am Hausbriefkasten der ersten Szene endgültig ab. Der Erfolg des Abends zeichnete sich schon im Szenenbeifall nach jeder Arie ab. Am Ende gab es dann aber rund 15minütigen tobenden Applaus, für alle Solisten und vor allem für das exzellente Orchester unter der Leitung von Dominic Limburg, der als erfahrener Operndirigent (1. Kapellmeister an der Deutschen Oper Berlin, zuvor Karlsruhe) dort zahlreiche Vorstellungen des Repertoires dirigiert.
Fazit: Händels Alcina in Wuppertal: Eine umjubelte Aufführung und großes Opernvergnügen.
 
Alcina - Dramma per musica in drei Akten von Georg Friedrich Händel. Libretto nach Antonio Fanzaglia und Motiven aus dem Epos ›Orlando furioso‹ von Ludovico Ariosto. In italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Premiere am 09.03.2024 im Barmer Opernhaus
Dominic Limburg (Musikalische Leitung), Julia Burbach (Inszenierung), Cameron McMillan (Choreographie), Cécile Tremolieres (Bühne und Köstüme), Ulrich Zippelius (Choreinstudierung), Laura Knoll (Dramaturgie). 
Margaux de Valensart (Alcina), Subin Park (Morgana), Randall Scotting(Ruggiero), Edith Grossmann (Bradamante), Sander der Jong a. G..(Oronte), Erik Rousi (Melisso); Tänzer, Opernchor der Wuppertaler Bühnen, Sinfonieorchester Wuppertal.