Fest oder flüssig?
Wenn in diesen Tagen im 21. Jahrhundert das Wort „Virus“ fällt und mehr das Leben als der Computer gemeint ist, dann hat man sofort als informierter und mit den Medien vertrauter Zeitgenosse den Corona-Erreger mit seinen hübschen Krönchen vor Augen. Das Virus, das ist doch ein festes Teilchen, wie man deutlich sieht und was Unverständnis nach sich zieht, wenn ein Historiker erklärt, daß Virus ursprünglich flüssig verstanden wurde, daß mit diesem Wort in der Antike ein giftiger Schleim bezeichnet wurde und die Biologen noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts keinen Anlaß sahen, diese Ansicht zu ändern. Viren damit meinte man Krankheitserreger, die feinste Filter passierten und als flüssig erschienen. Die Erklärung von Krankheiten durch Flüssigkeiten geht auf Hippokrates zurück, der vier Säfte in Balance bringen wollte, um einen Patienten gesund zu machen, sein Blut, seinen Schleim und seine gelbe und schwarze Galle. Die Idee, daß im Gegenteil zu dieser Säftelehre feste Gebilde wie Organe Krankheiten auslösen können, taucht erst im 18. Jahrhundert auf, und sie hat sich danach als Solidarparadigma etabliert, wobei die Solida, also das ursächliche Feste, die Solida, immer kleiner wurden. Im 19. Jahrhundert wurde erst eine Zellularpathologie gelehrt, deren Vertreter in den Zellen den Grund von Gesundheitsstörungen erkannten, dann wurden Bakterien als verantwortlich für Typhus, Cholera und die Tuberkulose mit immer besser werdenden Mikroskopen identifiziert, und im 20. Jahrhundert setzte sich der Gedanke von genetischen Ursachen vor allem bei Blutkrankheiten durch, also von pathologischen Genen. Als die Molekularbiologie diese Einsichten liefern konnten, hatten sie auch erkannt, daß die Viren nicht flüssig waren, sondern als Teilchen in die Zellen eindrangen, um sie von innen zu zerstören. Ist die Geschichte der Medizin damit an ihrem soliden Ende? Werden Krankheiten durch solide Ursachen verstanden? Natürlich nicht, und es ist eher das Gegenteil der Fall, denn sowohl die Viren als auch die Gene sind flüssiger als man denkt. Sie fließen in der Zeit in dem Sinne, daß es Mutationen von ihnen braucht, um die Krankheiten hervorzubringen, die Ärzte dann diagnostizieren. Die Evolution hat den Menschen Gene gegeben, die sie stark machen. Wenn sie verschwimmen, machen sie ihre Träger krank. Und das Corona Virus steckt sicher in zahlreichen Organismen, ohne Schaden anzurichten, bis es zerfließt und ein neue Gestalt annimmt. Das Solidarparadigma funktioniert nur, weil das Feste flüssig ist. Jedes Gen ist fest und flüssig zugleich, sonst gäbe es kein Leben.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
|