Wuppertaler Meinung und Dialog
Diese Wunde heilt nie
Von Lothar Leuschen
Gestern vor genau 25 Jahren stand Wuppertal unter Schock. Am frühen Morgen des Vortages war das eigentlich Unmögliche geschehen: Ein Wagen der Schwebebahn stürzte ab, fünf Menschen fanden den Tod. Eine Katastrophe dieses Ausmaßes hatte es in der damals bald 100 Jahre alten Geschichte des Verkehrsmittels nicht gegeben. Absturz, fünf Tote, fast 50 Verletzte – für ein paar lange Augenblicke stand diese Stadt still. Das Schicksal hatte ihr gezeigt, daß alles geschehen kann, vor allem dann, wenn der Mensch seine Hände im Spiel hat. Eine am Gerüst vergessene Montagekralle, ein Allerweltswerkzeug hatte Wuppertal aus allen Träumen gerissen. Das bis dahin – und heute trotzdem immer noch – sicherste Verkehrsmittel auf dem Globus verlor seine Unschuld. Die Schwebebahn büßte zumindest vorübergehend ihren Ruf ein, jeden Fahrgast sicher von Oberbarmen nach Vohwinkel oder von Vohwinkel nach Oberbarmen zu bringen. Dieser 12. April 1999 war eine Zeitenwende für das Wahrzeichen dieser Stadt, für das Meisterwerk der Ingenieurkunst, für die Seele Wuppertals.
Ein Vierteljahrhundert ist seither vergangen. Die Schwebebahn fährt längst wieder und immer noch. Sie transportiert täglich bis zu 80.000 Nutzer. Die Menschen vertrauen den himmelblauen Wagen, die meterhoch über die Wupper und über die Straßen dieser Stadt schweben. Die Schwebebahn von damals ist nicht mehr die Schwebebahn von heute. Neues Gerüst, neue Wagen, neue Technik. Der Zahn der Zeit nagt auch an technischen Kunstwerken. Und das technische Kunstwerk zeigt dem Menschen regelmäßig, daß er von Perfektion weit entfernt ist. Die Schwebebahn ist anfälliger geworden, sie hat ein wenig an Zuverlässigkeit eingebüßt, und nicht alle Wünsche sind in Erfüllung gegangen, die mit der letztlich mehr als 600 Millionen Euro teuren Verjüngungskur verbunden gewesen sind. Die formschönen Wagen erreichen inzwischen zwar die angepeilte Geschwindigkeit von bis zu 60 Kilometern in der Stunde. Die neue Technik ist anscheinend aber immer noch nicht so ausgereift, daß es wenigstens annähernd keine Betriebsstörungen mehr gibt. Und obendrein ist auch verpaßt worden, die Chance zu nutzen, die Schwebebahn fahrerlos und damit noch zukunftsfähiger zu machen. Das ist schade.
Aber meistens fährt die Bahn, nein, sie schwebt durch diese so wunderbar widersprüchliche Stadt. Sie zeigt ihren Gästen die Kerben, die mehrere Strukturwandel in Wuppertal geschlagen haben, sie zeigt atemberaubende Schönheit, die immer noch vom einstigen Reichtum Elberfelds und Barmens kündet. Sie fährt den Wuppertalerinnen und Wuppertalern mitten durchs Herz. Wuppertal ohne Schwebebahn wäre ärmer, wäre bettelarm, es wäre wie Paris ohne Eiffelturm, wie Köln ohne Dom.
Deshalb ist es gut, daß auch nach der Katastrophe vom 12. April 1999 kein ernst zu nehmender Impuls vernehmbar war, die Geschichte des nach Else Lasker-Schüler eisernen Drachens zu beenden. Wuppertal braucht dieses elegant-brachiale stählerne Ungetüm. Und Wuppertal braucht die Erinnerung daran, daß nichts perfekt sein kann, woran der Mensch beteiligt ist. Deshalb muß Wuppertal sich an den Tag der Katastrophe erinnern, deshalb und zum Gedenken an die Opfer, die gestorben sind, weil das Unmögliche eben doch möglich gewesen ist.
Der 12. April 1999 hat Wuppertal zutiefst verletzt. Die damals entstandene Wunde darf und wird niemals verheilen.
Der Kommentar erschien am 13. April in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
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