Vorsätzliche Verrücktheiten

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Vorsätzliche Verrücktheiten
 
In den 1920er Jahren, die man auch die Goldenen Zwanziger nennt, sind mindestens zwei revolutionäre Wissenschaften neu geschaffen worden, und beide haben mit vorsätzlichen Verrücktheiten zu tun, wie die Forscher es selbst gesehen haben. Gemeint ist zum einen die Physik der Atome, die heute als Quantenmechanik Triumphe feiern kann, weil ihre damaligen Vertreter Verrücktheiten als normal betrachteten und sich mit Hamlet trösteten, „Ist es Wahnsinn, so hat es doch Methode.“ Diese Physik dient hier als Einstieg, um auf das gleichzeitige Aufkommen der Wissenschaft vom Menschen eingehen zu können, der Anthropologie. Während die Atome im engen Europa von Männern verstanden wurden, waren es meist Amerikanerinnen, die zu Feldstudien in aller Welt ausschwärmten, um etwa wie die 1901 geborene Margaret Mead im Verlauf der 1920er Jahre die „Kindheit und Jugend in Samoa“ zu beschreiben. Sie wollte erkunden, wie der pubertäre Übergang zur Adoleszenz unter anderen Bedingungen als der einer Zivilisation mit strengen Vorgaben und sexuellen Reglementierungen geschieht.
Mead war mit einem Mann verheiratet, liebte eine Frau und fühlte sich bei ihren polynesischen Ausflügen zu weiteren Männern hingezogen. Sie interessierte sicherlich persönlich, wie Mädchen auf Samoa in solchen Situationen reagieren, aber im Mittelpunkt ihres Denkens stand nicht die eigene Sexualität, sondern zwei merkwürdige Widersprüche, die zu der amerikanischen Gesellschaft gehörten, der sie entstammte. Zum einen beriefen sich die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar auf die Ideen der (europäischen) Aufklärung, sie perfektionierten zugleich aber ein enormes System ethnischer Entrechtung und teilten die Völker in Rassen ein, denen sich die weißen Amerikaner überlegen fühlten und die sie folglich als Sklaven oder Bürger zweiter Klasse unterdrücken und ausbeuten konnten - wobei man sogar die Frauen geringer einstufen wollte, und zwar als Gender, wobei dieses Wort heute natürlich anders klingt als vor 100 Jahren, Zum zweiten hielten sich die Amerikaner im frühen 19. Jahrhundert für eine einzigartige - gottgefällige - Nation, während sie zugleich darauf bestanden, daß ihre Vorstellungen von einer guten Gesellschaft universelle Gültigkeit beanspruchen konnten. Sie sahen den Widerspruch nicht und zeigten sich daher schockiert, als Margaret Mead und ihre anthropologische Kolleginnen und Kollegen durch ihre Studien erkennen ließen, daß es nicht die eine Kultur der Weißen, sondern viele Kulturen von Menschengemeinschaften gibt, die alle ihren besonderen Wert haben und die zusammen Humanität ausmachen. Der weiße Mann im Weißen Haus weiß das noch nicht. Vielleicht ist er vorsätzlich verrückt.
 
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker