Ein Sommer fragilen Glücks

René Schickele – „Meine Freundin Lo“

von Ludwig Lenis

Ein Sommer fragilen Glücks
 
oder
 
Von der Macht der Leidenschaft
 
Der kleine Roman „Meine Freundin Lo“ von René Schickele aus dem Jahr 1911 erzählt eine Episode aus der blühenden Bohème im Paris des gerade verklungenen Fin de Siècle – jener lebenslustigen Zeit des unbeschwerten Genusses vor dem Ausbruch des ersten Weltbrandes. Im Mittelpunkt steht die junge charmante Lo, eine Schauspielerin - wir erfahren über ihre tatsächliche mimische Begabung nichts - am Theater «Grand Guignol». Sie ist aufgrund ihrer Attraktivität der begehrte Mittelpunkt eines Kreises verliebter Männer, zu dem ein deutscher Journalist (der Ich-Erzähler), der Dichter Variot, der Theaterdirektor Bertrand und Cunin, ein aufstrebender Abgeordneter der französischen Deputiertenkammer zählen. 
Mit großer Selbstsicherheit und -überzeugung  lebt Lo in der Gewißheit ihrer offenbar faszinierenden Weiblichkeit ihre gesellschaftliche und erotische Freiheit, schließlich ist sie eine der Frauen, von denen es auch heute noch Exempel gibt (ich kenne eine solche, ebenfalls Schauspielerin), deren Glut und Ausstrahlung die Männer zu Narren macht und deren Willen von ihnen wie Honigseim gesogen wird. Den Frauen ihrer Umgebung aber ist sie eine Natter. 
Der Journalist jagt sie dem Dichter ab und wird ihr Geliebter. Es folgt ein Sommer heiteren Glücks in einem Landhaus - natürlich auf ihren Wunsch gemietet - vor den Toren von Paris. Die beiden genießen das Leben: Sinnenfreuden, Geselligkeit, intellektueller Austausch, Liebe und, ja, auch Eifersucht. Denn Lo wird nicht auf ewig treu bleiben. Immerhin bleibt sie fast nie weniger als drei Monate bei ihrem jeweiligen Geliebten – aber selten mehr. Schließlich wird die ebenso begehrte wie flatterhafte und durchaus skrupellose Lo dem Erzähler wiederum von dem verheirateten Politiker abgejagt.
 
Ballade von der Frau Mínne
 
Dein glühend Reich dehnt sich von Ost nach West,
zehn Tagemärsche sind von einer Last zur andern.
Vieltausend Helden wollten dich durchwandern,
denn deine ferne Sonne schien ein Fest.
 
Sie fielen in die Schlünde deiner Augen.
Erblindeten an deiner Brüste Rand.
Es stach mit Wahnsinn sie der Sonnenbrand,
sie mordeten, um frisches Blut zu saugen.
 
An deinen Lenden endete das Schlachten nie,
mit letzten Kräften kämpften sie vor deinen Toren.
Manch Heldenlied ward unter Schwertern da geboren,
doch jeder, der es sang, verstummte jäh und schrie.
 
In deinem Haar, das über Berge klettert, wohnen
die Geister jener Helden, die dein glühend Reich verschlang.
Sie spielen Minne, wie die Kinder, Ewigkeiten lang,
sie sprechen wie Musik und tragen kleine Kronen.

(Variot für Lo)
 
René Schickele versteht es, die vielleicht damals auch etwas übertrieben empfundene und gelebte Bohème seiner eigenen Pariser Zeit kurz nach der Jahrhundertwende und ihre Charaktere lebendig in leicht erscheinendem aber raffiniert aufgebautem Fluß sowie sprachlich anspruchsvoll zu schildern. Die Neuauflage heute erweckt jene Epoche in einem Streiflicht zu neuem Leben.
 
Der Verlag über den Verfasser: René Schickele gehört zu jener Generation von Autoren, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre ersten Werke publizierten und in der Folge das literarische Leben in Deutschland bis 1933 prägten. Seine Stellung war jedoch eine besondere: Er stammte aus dem Elsass, war zweisprachig aufgewachsen und sah in der gegenseitigen Befruchtung der französischen und deutschen Lebens- und Denkart seine Mission. Dieses «geistige Elsässertum», wie er es nannte, war eine europäische Idee, die die Engstirnigkeit der nationalen Konzepte überwinden sollte – zur Sicherung des Friedens und zur geistigen Bereicherung aller. Seine Frankophilie war vor dem 1. Weltkrieg, als Deutschland in Frankreich den «Erbfeind» sah, eine kühne politische Utopie, die ihn des Defaitismus verdächtig machte. So war es nicht unverfänglich, als Schickele seinen kleinen Roman «Meine Freundin Lo» veröffentlichte und ihn im Untertitel als «Geschichte aus Paris» deklarierte. Der Roman erscheint nun erneut bei NIMBUS als 10. Band der Reihe «unbegrenzt haltbar» und enthält als Zugabe das ursprüngliche Eingangskapitel, das in den bisherigen Buchausgaben des Romans weggefallen war.
René Schickele, (1883-1940) wurde in Obernheim geboren, studierte in Straßburg, München, Berlin und Paris Literaturgeschichte und Philosophie. Zusammen mit Ernst Stadler und Otto Flake gab er 1902 die Zeitschrift «Der Stürmer» heraus; im gleichen Jahr erschien sein erster Gedichtband. 1905 zog er nach Berlin und arbeitete für verschiedene Zeitschriften. 1908 erschien sein erster Roman «Der Fremde». Im Jahr darauf wurde er Pariser Korrespondent der «Strassburger Neuen Zeitung», deren Chefredaktion er 1911 übernahm. In Paris entstanden der Roman «Meine Freundin Lo» und die Prosasammlung «Schreie auf dem Boulevard». 1912 zog er nach Fürstenberg bei Berlin, publizierte u.a. in der expressionistischen «Aktion» und in den «Weißen Blättern», deren Leiter er nach Kriegsausbruch wurde. Als Pazifist ging er 1915 ins Exil in die Schweiz. Im November 1918 kehrte er zunächst nach Berlin zurück, ließ sich 1921 aber in Badenweiler nieder, wo die Trilogie «Das Erbe am Rhein» (1926–1931) entstand. Noch bevor 1933 sein Roman «Die Witwe Bosca» erschien, ging Schickele 1932 erneut ins Exil und lebte in wirtschaftlich beengten Verhältnissen an der Côte d’Azur. Er starb 1940 in Vence.

René Schickele – „Meine Freundin Lo“
Eine Geschichte aus Paris
Fassung der Erstausgabe mit dem bisher ungedruckt gebliebenen Eingangskapitel als Zugabe.
Band 10 der Reihe «unbegrenzt haltbar», Albert M. Debrunner (Hrsg.)
© 2024 Nimbus Verlag,144 Seiten, Halbleinen, Fadenheftung, Lesebändchen, 21,5 x 14 cm ISBN 978-3-03850-096-4
24,80 sFr / 24,80 €
 
Weitere Informationen: www.nimbusbooks.ch