Die Rückseite der Nachtseite

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Die Rückseite der Nachtseite
 
Wer schon einmal Medikamente zu sich genommen hat - und wer hat dies nicht getan? - wird den Satz kennen, „zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“, und so wird man wissen, daß zu einer Haupt- manch eine Nebenwirkung gehören kann. Allgemein kann man sagen, daß Errungenschaften eine Schattenseite mit sich bringen, konkret das Automobil den Ausstoß an Treibhausgasen und allgemein die Ohnmacht der Menschen im Anblick der Umweltzerstörungen, die anfallen, seit sie mit dem Willen zur Macht nach dem Wissen streben, daß ihnen dazu verhelfen soll. Doch wo Gefahr wächst, wächst das Rettende auch, wie es in einem Gedicht von Friedrich Hölderlin heißt, und die amerikanische Historikerin Jennet Conant hat nun gezeigt, daß der Dichter sogar in schwierigen Situationen recht hat und sich das Rettende erst zeigen kann, wenn die Gefahr vorüber ist. Jennet Conant hat ein Buch mit dem Titel „The Great Secret“ verfaßt, das mit einem Angriff deutscher Truppen im Dezember 1943 auf die italienische Stadt Bari beginnt, bei dem Senfgas zum Einsatz kam, viele Schiffe zerstört wurden und über 1000 Soldaten und Zivilisten ihr Leben verloren. Ein amerikanischer Arzt namens Stewart Alexander kümmerte sich damals als Colonel um die Verwundeten, wobei ihm auffiel, daß einige Menschen erst Tage nach dem Bombenangriff Symptome zeigten. Seine Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, daß sie nicht direkt von dem Giftgas der Angreifer betroffen waren, sondern daß im Gegenteil eigene Kampfstoffe ihre pathologische Wirkung zeigten, die von den Alliierten geheim gehalten und auf einem Schiff versteckt worden waren, das bei dem Luftangriff einen Treffer abbekommen hatte. Einer von den dort verborgenen Chemikalien hieß Stickstoffsenf, und eine genauere Untersuchung zeigte, daß die Spätschäden durch Kontakt mit dieser trotz ihres einfachen Namens komplizierten Substanz dadurch zustande kamen, daß sich die Zahl der weißen Blutzellen in den Leidenden verringerte. Als der Krieg vorbei war, erinnerte sich Dr. C.P. Dusty, der zuvor als militärischer Vorgesetzter von Colonel Alexander gedient hatte und jetzt als Arzt in einem Krebsforschungsinstitut arbeitete, an die Beobachtungen aus Bari, und ihm kam der Gedanke, Blutkrebs mit dem Stickstoffsenf zu behandeln. Dusty wußte, daß Neoplasien und Leukämie mit einer erhöhten Zahl von weißen Blutzellen einhergingen, und warum nicht versuchen, sie durch Einsatz des ehemals versteckten und geheimen Stoffes zu verringern? Gesagt, getan - und so ist der Menschheit ein Mittel zugefallen, das als Chemotherapeutikum zur Bekämpfung von Krebserkrankungen eingesetzt werden kann. Vom Krieg in die Klinik, vom Tod zum Leben.
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker