Die zwei Kulturen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Die zwei Kulturen
 
In den 1960er Jahren ist dem britischen Romancier und Physiker Charles Percy Snow aufgefallen, daß die Geisteswissenschaftler an seiner Universität in Cambridge zwar von Shakespeares Sonetten schwärmten, aber nichts von dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik wissen wollten. So etwas gehöre nicht zur Bildung, wie sie meinten, was Snow ärgerte, der diese Überheblichkeit nutzte, um eine Trennung der literarischen von der wissenschaftlichen Kultur zu diagnostizieren. Seitdem fragt man sich, ob diese Spaltung nur Schnee vom vergangenen Jahr ist oder ihre Relevanz behalten hat. Hier wird die Ansicht vertreten, daß es ja weder um die Sonette noch um den Hauptsatz geht und es vielmehr auf ein Verstehen der Welt ankommt, und darum bemühen sich sowohl die Literatur als auch die Physik. Wer dies beachtet, wird finden, daß der Dichter in seinem Werk die Zeit anhält, um seine Liebste in ihrer Schönheit im Sonett auf ewig einzufangen, während die Wissenschaft konstatieren muß, daß die Zeit in der Wirklichkeit nur in Bewegung sein kann und auf den Tod zuläuft. Wer Zeit als Ganzes verstehen will, scheint gut beraten, wenn er sich sowohl in der Poesie umhört als auch in der Physik umsieht. Manchmal ist ein literarischer Text schwer zu verstehen, und manchmal verzweifelt man am Weltbild der Wissenschaft mit ihren sprunghaften Atomen und raumzeitlichen Verzerrungen. Als sich diese Sicht der Dinge entwickelte, entstanden auch die Romane von Franz Kafka, die an dieser Stelle erwähnt werden, weil der Literaturkritiker und Philosoph Walter Benjamin um 1930 meinte, man könne die kafkaeske Welt besser verstehen, wenn man die Aporien der modernen Physik daneben stelle. Offenbar dachte Benjamin, die Sätze der Naturwissenschaft seien verständlich genug, um das Unverständliche der Prager Prosa begreiflich zu machen. Mir scheint, daß Gegenteil ist eher der Fall, womit konkret gemeint ist, daß die wundersamen Einsichten der Atomphysik mit ihren eigenwilligen Kausalitäten den Menschen näher gebracht werden können, wenn man sie in eine Erzählung einbindet und darin verrückte Welten der Art erlebt, wie Kafka sie beschrieben hat. Als die Physiker am Anfang des 20. Jahrhunderts die mikroskopischen Sphären erkundeten, fragten sie sich, ob sie jemals den Wahnsinn verstehen könnten, den sie da vorfanden. Ja!, lautete die hoffnungsvolle Antwort, aber nur, wenn wir zugleich verstehen, was Verstehen heißt. Verstehen gelingt nicht nur mit dem Kopf. Zum Verstehen gehört auch das Herz, und dies wünscht sich poetische Angebote. Wenn es gelingt, Herz und Kopf für Atome und Moleküle zu erwärmen, wenn Poesie und Physik zusammentreffen, dann entsteht die eine Kultur, von der Snow träumte. Sie macht das Humane aus.
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker