Überraschungen mit Überraschungen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Überraschungen mit Überraschungen
 
Als ich ein kleiner Junge war, gehörte es zu den Reizen der Wissenschaft, daß derjenige, der sie betrieb, auf Überraschungen gefaßt zu sein hatte. Man machte die Experimente doch nicht in erster Linie, um herauszufinden, was man schon wußte. Man wollte eine Überraschung erleben und damit groß rauskommen! Oder? In dem hoch angesehenen britischen Wissenschaftsmagazin Nature hat ein polnischer Ökonom vor einigen Jahren analysiert, wie oft Naturforscher tatsächlich von ihren Ergebnissen überrascht sind (Band 440, S. 1112). Er hat in über 30 Millionen (!) Artikeln nachgesehen, ob dort das Wort „überraschend“ zu finden war (da das alles auf Englisch stattfindet, geht es um „surprise“). Solche Dinge sind heute selbst in solchen Mengen leicht zu erledigen. Man braucht nur Zugang zu den entsprechenden Dateien zu finden - dafür gibt es einen Index - und die Suchmaschine zu beauftragen, die Menge der „Überraschungen“ zu zählen. Dabei wurde - ohne absolute Angaben - festgestellt, daß in einer wissenschaftlichen Veröffentlichung zwölfmal mehr von „surprise“ die Rede ist als in anderen Texten, in denen es normal zugeht und keine Forschungsergebnisse berichtet werden. So schön, so gut, doch dann die eigentliche Überraschung. Der Ökonom findet sein Ergebnis nämlich nicht nur „surprising“, sondern sogar „incredible“, also „unglaublich“. Schließlich seien „Überraschungen“ keine „inhärente Eigenschaft der Natur“, wie er schreibt. Er geht sogar soweit, hier trickreiche Wissenschaftler manipulierend am Werk zu sehen, die mit ihren Überraschungen die Aufmerksamkeit der Medien anlocken wollen und darauf hoffen, von ihnen bemerkt und erwähnt zu werden. Was soll man davon halten? Gibt es wirklich zu viel „surprise“ in der Wissenschaft? Mir scheint eher das Gegenteil zutreffend: Warum werden Befunde überhaupt publiziert, wenn sie nichts Erstaunliches enthalten und nur reproduzieren, was man schon kannte? Übrigens - erstaunt sein heißt auf Englisch „astonished“, aber nach diesem Wort hat der Ökonom nicht gesucht. Dabei ist dies der viel treffendere Ausdruck für das Augenreiben über ein lohnendes Resultat, denn wer überrascht wird, kann auch einfach nur aufgeflogen und bei einer Untat erwischt worden sein. Darüber können dann andere staunen.
 
 
© Ernst Peter Fischer

Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker