„Nichts ist als ich und Du… „ oder?
„Kairos“: Liebe und Unglück in Ostberlin zur Wendezeit
Literarisch ist sie ein Weltstar. Jetzt bekam sie den International Broker Prize, für den sie schon sechsmal nominiert war. Das ist der bedeutendste Literaturpreis für ins Englische übersetzte Literatur. Jenny Erpenbeck erhält den Preis für ihren Roman „Kairos“, mit dem sie in den USA in diesen Wochen auf Lesereise gegangen ist. Erstaunlich ist es, daß diese Autorin bei solchem Erfolg im Ausland (Übersetzungen in 30 Sprachen) nie für die relevanten deutschen Buchpreise nominiert wurde. Vielleicht bekommt sie eines Tages den Nobelpreis? In Kairos geht es um die Liebe einer 19jährigen zu einem 34 Jahre älteren Mann, der schon verheiratet ist und auch einen Sohn hat. Die unbefangene Liebe des ungleichen Paares entwickelt sich stürmisch, erotisch, intensiv, scheint absolut sicher, auf immer angelegt zu sein und spielt in Ostberlin vor dem Fall der Mauer. Die Leidenschaft und Emotionen der Liebenden werden im Roman verwoben mit dem Ende der DDR.
Schon im Prolog wird das Ende der Liebesgeschichte mitgeteilt. Sie konnte nicht zu seiner Beerdigung kommen, auf der Mozart, Bach und Chopin gespielt wurde. Wenige Monate später bringt eine Frau zwei Kartons, in denen sich Unterlagen, Briefe, Tagebücher, Fotos, Negative, Zeitungsartikel, Postkarten aus den Jahren 1986 bis 1992 finden, die der Tote gesammelt hat Aber auch Katharina hat einen Koffer mit Gegenständen und Erinnerungsstücken, die sie gesammelt hatte. So sitzt sie auf dem Boden, kramt in dem ungeordneten, umfangreichen Material, liest, stöbert, erinnert sich, findet „stummgewordenen Zorn, ebenso wie stummgewordene Liebe miteinander in einem Umschlag“, vergilbt und zerknickt wie die Erinnerung. Aus alle dem ist dieser mitreißende Roman entstanden. Musik spielt als Spiegel der Emotionen und des Geistes für den älteren, intellektuellen Freund Hans eine große Rolle, ebenso Bibelzitate und Literatur. Daß Katharina später in Frankfurt/Oder ein eher beiläufiges Verhältnis mit dem jungen russischen Bühnenbildner Vadim beginnt, kann Hans nicht bewältigen. Er ist psychisch durch den „Betrug“ schwer verletzt, quält sich und die unglückliche Katharina mit Lügen und Unterstellungen. Was auch immer er spricht, werde gegen ihn verwendet, meint er. Für ihn ist ein solcher Betrug in der Beziehung die einschneidendste Niederlage im Leben. Mit dem Psychotherapeuten spricht er über Hölderlin, dessen Wahnsinn und unglücklichen Freunde. Liebe und Haß sind für Hans und Katharina nicht zu trennen. Masochistische Sexualität hilft weder ihm noch ihr und in einer lesbischen Beziehung findet sie ihr Glück auch nicht wieder. Nichts in der Beziehung ist mehr echt, auch nicht, wenn sie sich „ineinandergesteckt“ immerhin räumlich nahe sind und Katharina sich die Augen rot weint am Jahrestag ihres Fehltritts mit Vadim. Selbst der prächtige Pilgerchor aus dem „Tannhäuser“ von einer LP tröstet sie dann nicht.
Die individuelle Geschichte mischt sich mit DDR-Atmosphäre, deren intellektuelle Ausprägung in Ostberlin lebendig wird; in der aber andererseits auch der Schweiß der Arbeiterklasse auf Brecht, Mozart, Hölderlin und Eisler tropft, wenn mit Bierbauch in gerippten Unterhemden nach Feierabend im Garten gewerkelt wird. Mit dem Mauerfall brach die Freiheit des Konsums in ganz Deutschland aus, die Werktätigen der ehemaligen DDR wurden in Amtsstuben abgewickelt und aus der riesigen Karl-Marx- Buchhandlung tonnenweise Bücher in den Müll geworfen. „Kairos“, der griechische Gott des rechten, des glücklichen Augenblicks, konnte bei blanker Glatze nur an einer Haarlocke über Stirn ergriffen werden. Außerdem ist er nur selten nah und im Roman überaus flüchtig. Am Ende dieses vielschichtigen, überaus lesbaren Romans wird im Epilog erläutert, daß Hans für 15 Jahre als IM der DDR-Stasi zugearbeitet hatte, bevor man dort auf ihn 1988 verzichtet hat. Zweifel, Lustlosigkeit, Unzufriedenheit mit sich selbst attestierte ihm der Führungsoffizier. Da liebte er schon Katharina, aber auf die Liebe ist wie auf staatlichen Strukturen kein Verlaß. „Daß man in historischen Umbruchzeiten die Lebensgeschichten wie durch ein Brennglas sieht und dadurch mehr von der Existenz des Menschen an sich versteht, vom Scheitern und von der Vergänglichkeit von Strukturen, die man für unumstößlich gehalten hat“ konstatiert die Autorin im Interview (SZ am 20.05.24). Trumpismus in den USA, Krieg in Europa, Lepenisten in Frankreich, AfD bisher vor allem in Ostdeutschland: in was für Zeiten leben wir?
Jenny Erpenbeck – „Kairos“
© 2021 Penguin Verlag München, 1. Auflage, 379 Seiten, gebunden, Lesebändchen und Schutzumschlag - ISBN 978-3-328-60085-5
24,- €
Weitere Informationen: www.penguin.de/
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