Freie Erfindungen des menschlichen Geistes
Als das Wort „Postmoderne“ aufkam, meinte ein Witzbold, eine moderne Post sei ihm lieber. Mit den postfaktischen Zeiten, die derzeit von den Medien ausgerufen werden, kann man solch ein Wortspiel leider nicht veranstalten, doch bevor viele Menschen sich jetzt mit Grausen von den Lügen eines möglicherweise demnächst wieder lautstark amtierenden Präsidenten und den Schwindeleien anderer Politiker - „Mit mir ist die Maut nicht zu machen“ - abwenden, empfehle ich einen Blick auf die Wissenschaft, die doch als Hort und Garant der Wahrheit gilt. Oder ist er eher das Gegenteil der Fall?
Es ist natürlich keine Frage, daß im Hause der Wissenschaft die Lüge verpönt ist, aber zum einen kann niemand das dort erlebte Vergnügen am Betrügen übersehen, der sich ernsthaft der Geschichte etwa von Physik, Chemie oder Biologie zuwendet. Und zum zweiten ist es der Wissenschaft seit ihren modernen Anfängen vor allem darum gegangen, „die Bedingungen der menschlichen Existenz zu erleichtern“, wie Galileo Galilei einstmals gemeint hat, der die Wahrheit dann gerne den Kirchenvertretern überließ - wahrscheinlich auch deshalb, weil er ahnte, daß die hohen Herren damit in Schwierigkeiten kommen würden. Er selbst und seine Kollegen hatten genug damit zu tun, all die Ergebnisse, die in vielen Versuchen und Beobachtungen gesammelt wurden - also all die Daten, die dabei zusammen kamen -, unter einen theoretischen Hut zu bringen, um dann sagen zu können, man habe etwas verstanden, etwa die Bewegung der Planeten oder von schwimmenden Körpern. Irgendwann läuft das Faß mit den Informationen über, die dann niemand mehr aufnehmen kann und die bei der Suche nach der zutreffenden Deutung der Natur - also bei der Suche nach Wahrheit - nur stören. Ich möchte dies an einem Beispiel aus dem 20. Jahrhundert erläutern.
Als der Amerikaner James Watson und der Brite Francis Crick in den frühen 1950er Jahren in den Laboratorien der Universität von Cambridge versuchten, die Struktur einer Nukleinsäure namens DNA zu ermitteln, von der man annehmen durfte, daß die Gene aus ihr bestanden, da weigerten sie sich eines Tages, noch mehr Meßergebnisse von Biochemikern, Kristallographen und Bakteriologen zur Kenntnis zu nehmen. „No more facts!“, wie die beiden in einem ersten Schritt lauthals verkündeten, um in einem zweiten sogar die etablierten Fakten, also das Lehrbuchwissen, zu korrigieren. Erst in dieser selbstgewählten Situation konnte das Duo dann die berühmte Doppelhelix präsentieren, die einen völlig neuen Blick auf das Leben der Zellen ermöglichte, der von den Historikern als Revolution der Life Science bewertet wurde, wie das alte Fach Biologie heute heißt.
Wohlgemerkt - die berühmte Doppelhelix aus DNA ist ein postfaktisches Geschöpf, ein Produkt menschlicher Phantasie, die nach dem Sammeln der Fakten tätig wird. Und das gilt für alle großen Theorien der Wissenschaft, wie es der Größte unter ihren Lieferanten, der gefeierte Albert Einstein ausgedrückt hat: Die Begriffe und Grundgesetze der Physik und anderer Naturwissenschaften sind „freie Erfindungen des menschlichen Geistes“, wie er in dem Buch schreibt, in dem er „Mein Weltbild“ vorstellt und in dem sich Einstein „Zur Methodik der Theoretischen Physik“ äußert.
Menschliches Verstehen gelingt in der Wissenschaft postfaktisch, das heißt, es gelingt, nachdem die Daten gesammelt sind und die Phantasie Gelegenheit bekommen hat, mit ihnen zu spielen und ihnen eine angemessene Ordnung zu geben. Was Forscher der Öffentlichkeit anbieten, wenn sie ihre Einsichten und Kenntnisse erläutern, kann doch nur postfaktisch sein, wobei das präsentierte Wissen auch danach bewertet wird, ob es einem gefällt und in dem Weltbild seinen Platz findet, mit dessen Hilfe man das sieht, was sich den Augen nicht zeigt. Die großartige Kultur der Wissenschaft ist kein Produkt von Fakten, sondern - im Gegenteil - ein Kind der Phantasie. Es fällt auf, daß die Politik und die Medien da kaum mithalten können.
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
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