Singen und Vögeln wie die Nachtigall

Ernst Paul Dörfler – „Das Liebesleben der Vögel“

von Johannes Vesper

Tiuu, tiuu, tiuu, tiuu, Spe tui squa -Tio, tio, tio, tio, tio, tix –
Qutio, qutio, qutio, qutio- Zquo, zquo, zquo, zquo Tzü, tzü …
(Johann Matthäus Bechstein 1757-1822)
 
Singen und Vögeln wie die Nachtigall
 
 
Korallenriffe bleichen, Braunalgenhaufen stinken auf den Stränden der Karibik. „Meeresrotz“ blüht in der Adria. Der Edersee ist leer, in der Oder treiben wieder tote Fische. Überschwemmungen, Starkregen, Hitze und Waldbrände, Kriege mit Toten und Umweltzerstörungen: die Erde ist in menschengemachter, apokalyptischer Unordnung. Dabei siedelt der Mensch auf ihr erst seit rund 12.000 Jahren und ist als homo sapiens seit rund 200.000 Jahren überhaupt erst existent, während sich Vögel bereits seit 150 Millionen Jahren auf diesem Planeten herumtreiben und um ihren Nachwuchs kümmern. Sie haben bezüglich einer Überlebensstrategie zeitlich jedenfalls einen gewaltigen Vorsprung. Im Buch geht es um Beziehungsprobleme von nur rund 40 Vögeln vom Buchfinken bis zum Kampfläufer. Bezüglich ihres Liebeslebens haben Vögel den Vorteil, daß man ihnen ihr Alter nicht ansieht. Musikalität bedeutet bei Vögeln Testosteronüberschuß und Lebenstüchtigkeit. Gute Sänger haben den meisten Nachwuchs.
 
Das Vogelkonzert beim Morgengrauen im Frühjahr spiegelt Lebenslust und Paarungswillen. Schlagen und Schluchzen der Nachtigall des Nachts soll nicht nur die Weibchen beeindrucken sondern dient mit bis zu sieben Oktaven und Hunderten von Strophen auch der Verteidigung des Reviers. Die Damen fliegen umher und hören sich verschiedene Männchen an, bevor sie wählen. Es herrscht chronischer Männerüberschuß. Merkwürdigerweise gilt für Nachtigallen Berlin als europäische Hauptstadt. Nirgendwo gibt es mehr als dort.
 
Bei Störchen entwickeln sich gelegentlich ohne Liebesgeklapper schon bei der Rückreise aus dem Winterquartier Reisebekanntschaften, die in einer Paarung enden. Hier spielen wohl Schönheit und Sympathie eine Rolle.
Mit dem Hausspatz wohnen wir seit rund 10.000 Jahren zusammen. Die Spatzenweibchen suchen sich ihre Männer nach deren Fluggeschwindigkeit aus und nach ihren Qualitäten beim Nestbau. Das Nest muß ihren weiblichen Maßstäben genügen. Obwohl Spatzen gesellige Vögel sind, immer in Gruppen balzen und nisten, sind sie meistens monogam. Nur gelegentlich wird eine nahebei wohnende Spatzenwitwe mitversorgt, jedenfalls mit Samenzellen. In ihrer fruchtbaren Phase gebärden sich Spatzenweibchen nahezu nymphomanisch, fordern ihren Partner bis zu 20mal zu Spermaspende, bzw. Kopulation auf. Spatzen wissen, was sich gehört. Entdeckt jemand einen frischen Pferdeköttel, werden alle herbeigerufen und man wartet mit der Mahlzeit, bis alle da sind.


Buchfink mit Testosteronüberschuß - Foto © Johannes Vesper

Anders als die eher bürgerlichen Spatzen frönen die emanzipierten Rohrsängerinnen der freien Liebe, paaren und kopulieren ungebunden und wild mit jedem. Da gibt es Nester mit 6 Eiern von 5 verschiedenen Vätern. Dank entwickelter genetischer Untersuchungsmethoden bleibt nichts verborgen. Zwar schätzen 90% der Vögel die Monogamie, schätzen Seitensprünge aber durchaus, hoffen die genetische Vielfalt zu erweitern. Um stabile Beziehungen geht es auch bei der scheuen Heckenbraunelle nicht, wenn sie sich bei Futtermangel ein zweites Männchen zur Futterbeschaffung leistet. Überlappen sich weibliche und männliche Reviere, vögeln all die kleinen braunen Vögel wild durcheinander. Auch die Seggenrohrsängerinnen und ihre Partner gehen nur Bindungen ein, die die Kopulationsdauer nicht überschreiten. Bei Mehrfachbesamung kann die immerhin bis zu 40 Minuten dauern. Alle gehören allen, dank freier Liebe im Sinne einer Polyamorie. Aber der Schnepfenstrich ist keine Region für Vögelprostituierte, sondern eine charakteristische Flugbewegung bei der Balz. Immerhin tauschen die ihre Partner sozusagen im Fluge und treiben dabei Hochleistungssport. Dank Biotelemetrie und Minisender wurde eine Pfuhlschnepfe bekannt, die 2022 von Alaska über den Pazifik bis nach Südaustralien geflogen ist: 13.500 km ohne Pause. Für eine solche Reise wird bei Zugvögeln sogar das eigene Hirn angedaut und zur Energiegewinnung benutzt und kann am Ende mit ausreichender Nahrung wieder restituiert werden. Leistungssportler sind dazu nicht in der Lage.
 
Im Gegensatz zum ganzhirnigen Büroschlaf von Bürokraten schlafen Mauersegler halbhirnig im Flug und halten sicherheitshalber ein Auge geöffnet. Sie paaren sich auch im Flug. Wer kann das schon? Rauchschwalben?
 

Schwäne - Foto © Susanne Dropmann
 
Traute, lange Zweisamkeit nimmt bei den Vögeln mit der Größe des Gehirns bzw. seiner relativen Masse zu. Die eleganten Schwäne bleiben lange zusammen, wenn sie erst mal ein ausreichend großes Seegrundstück gefunden haben. Findet sich keins, wird die Ehe hinausgeschoben. Ist dann nach anstrengendem Nestbau die Zeit zur Paarung gekommen, schwimmen sie mit zugewandten Hälsen dich nebeneinander, bis die Schwänin sich mit gestreckten Flügeln flach auf das Wasser legt und den Schwanz anhebt. Der Schwan bewegt sich zur Kopulation - die dauert 5-10 Sekunden - auf deren Rücken und beißt ihr zum Akt zärtlich in den Hals.
 
Sexuelle Variabilität und Einfallsreichtum bei den Vögeln sind bemerkenswert. Wir Menschen könnten hier viel lernen, wobei es bei uns bezüglich einer erfolgreichen Überlebensstrategie eher darum gehen müßte, unseren Nachwuchs zu begrenzen und natürlich „den eigenen Lebensstil nachhaltiger, Natur- und klimafreundlicher zu gestalten“. Mit dieser Mahnung endet das amüsante, kenntnisreiche sehr lesbare Buch mit eleganten Illustrationen.
 
Der promovierte Ökochemiker Paul Ernst Dörfler wurde als freier Schriftsteller (seit 1983) mit seinem Buch („Zurück zur Natur“) eine Ikone ostdeutscher Umweltschützer, Mitbegründer der Grünen Partei in der DDR und für sein literarisches Werk und für sein Engagement im Naturschutz mehrfach ausgezeichnet.
 
Ernst Paul Dörfler – „Das Liebesleben der Vögel“
Mit Illustrationen von Ute Bartels
© 2024 Ernst Paul Dörfler, © Deutsche Erstausgabe Hanser Literaturverlag, 235 Seiten, gebunden, Schutzumschlag -  ISBN 978-3-446-27971
22,- €
 
Weitere Informationen: www.hanser-literaturverlage.de