Eine alte und keine neue Energiewende
Die Energie ist in diesen Tagen in aller Munde, und eine Frage lautet, wie sie dahin gekommen ist. Als der Philosoph Aristoteles den Begriff der „energeia“ prägte, dachte er an eine Wirkkraft, die aus dem, was in der Welt als Möglichkeit vorhanden ist, das macht, was es wirklich gibt. Der Urheber von „Energie“ konnte sich vorstellen, daß es neben dem, was ist, und dem, was nicht ist, noch etwas Weiteres - etwas Drittes - gibt, nämlich das, was möglich ist. Wer von „Energie“ spricht, schaut demnach weniger auf die Wirklichkeit und mehr auf das Potential, das in der Welt steckt, aber Gefallen daran haben die Zeitgenossen des Philosophen und die ersten christlichen Jahrhunderte nicht gefunden. Erst um 1800 ist die Energie nach den antiken Tagen in Gebrauch gekommen. Dies passierte im Verlauf der Industriellen Revolution, als Dampfmaschinen konstruiert wurden, die Wasser pumpten und andere Arbeiten verrichteten und dafür Energie benötigten, was man berechnen wollte. Es dauerte bis in die 1840er Jahre, bevor in einem Konversationslexikon die „Energie“ zum ersten Mal auftaucht. Damals gelang es Physikern auch, den Satz von der Erhaltung der Energie zu formulieren, der besagt, daß Energie unzerstörbar ist und weder erzeugt noch vernichtet werden kann. Seitdem verbietet es sich genau genommen, von Energieproduzenten und Energieverbrauchern zu sprechen, wie es in der öffentlichen Rede trotzdem geschieht. Es gibt tatsächlich nur Energiewandler - oder Energiewenden, wenn man so will -, und die Unternehmen, die Haushalte mit Elektrizität versorgen, wandeln mechanische in elektrische Energie um, und die Menschen, die dort leben, wandeln diese Form mit ihren Geräten in die Warme eines Bügeleisens, die Helligkeit einer Lampe oder auf andere Weise um. Mit diesem Verständnis der Energie konnte die Konzeption des Aristoteles die soziale Karriere antreten, die politisch verantwortliche Menschen heute sagen läßt, daß die Zukunft von zivilisierten Staaten mit produktiver Industrie an die Verfügbarkeit von wandelbarer Energie gebunden ist. Damals im 19. Jahrhundert gab es eine Wende hinsichtlich der Energie, sowohl im Verständnis dieser physikalisch-philosophischen Größe als auch im praktischen Einsatz ihrer verfügbaren Form, und sie hat „Die Verwandlung der Welt“ ermöglicht, wie der Historiker Jürgen Osterhammel seine umfangreiche Geschichte dieser Zeit betitelt, in deren Verlauf die gegenwärtige Lebensweise entstanden ist. Eine Energiewende im 21. Jahrhundert müsste eine weitere „Verwandlung der Welt“ mit sich bringen, und die Frage lautet, ob sie mit dem Konzept gelingen kann, das als „erneuerbare Energie“ propagiert wird und etwas beschwört, daß es genau genommen nicht gibt. Gemeint sein können bestenfalls erneuerbare Quellen von Energieträgern, die nicht so lange zur Regeneration wie Öl oder Kohle brauchen, und gedacht wird dabei vornehmlich an Sonne, Wind und Wasser. Man muß es nicht betonen: Immer mehr Staaten und ihre ständig wachsende Bevölkerung müssen fast unvorstellbare Mengen an Energie umwälzen und dazu Unmengen an Rohstoffen der Natur entnehmen. Längst haben dramatische Wettläufe in Richtung der dazugehörigen Lagerstätten begonnen. Dabei fällt auf, daß alle von Energie sprechen, ohne daß jemand sagen könnte, was das Gemeinsame etwa von Sonnen-, Wind-, Kern-, Wärme- und Bewegungsenergie ist. Oder? Es kommt eben nicht darauf an, die Welt zu verändern. Es kommt - im Gegenteil - darauf an, sie zu verstehen. Die Wende muß erst im Kopf stattfinden. Es lohnt sich, zurück zu den Quellen zu gehen und daran zu denken, daß Energie dazu dient, das Mögliche wirklich werden zu lassen. Im 19. Jahrhundert wußten die Menschen, was sie wollten, nämlich leichter leben und ihre Muskelkraft schonen. Damit gelang ihnen die Energiewende. Vielleicht kommt sie heute nicht von der Stelle, weil niemand so recht weiß, was Menschen wollen. Oder hat jemand einen Vorschlag?
© Ernst Peter Fischer
Wiedergabe in den Musenblättern aus „Wahrheit im Widerspruch“ mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
|