Aufregungsrituale

Die Geste des Fußballers Merih Demiral

von Lothar Leuschen​

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Aufregungsrituale
 
Die Geste des Fußballers Merih Demiral
 
Lothar Leuschen
 
Merih Demiral hat sich in die Annalen der Fußballgeschichte seines Landes gespielt. Beide Treffer im Achtelfinale zum Sieg gegen Österreich bedeuten einen der größten Erfolge des türkischen Fußballs. Dabei hätte Demiral es bewenden lassen können. Aber im Überschwang der Gefühle reckte er beide Arme zum Wolfsgruß empor. Das ist die Geste der türkischen Ultranationalisten. Wer jemals erfahren wollte, wie eine sportliche Glanzleistung in Windeseile in Vergessenheit geraten kann, der wurde in der Folgezeit prima bedient. Menschenrechtler begehrten auf, weil die Türkei im Umgang mit der kurdischen Minderheit im Land tatsächlich skandalöse Schwächen hat. Das macht die Geste Demirals unsympathisch. Aber unsympathisch ist nicht unerlaubt. Daß die Uefa den Fall nun dennoch untersucht, ist deshalb sehr spannend. Wie will sie sanktionieren, was gar nicht unter Strafe steht? Den Herren in Lausanne wird vermutlich schon etwas einfallen. Ein bißchen Schimpfen, ein bißchen Geldstrafe. Korrektivfolklore, die Demiral sportlich zu Recht nicht schadet und ihm in der Heimat noch größeren Kultstatus verschafft.
 
Die Geste des Fußballspielers Demiral ist politisch aufgeladen und hat auf dem Sportplatz deshalb nichts zu suchen. Seinen Nationalstolz hätte er auch damit dokumentieren können, daß er das Wappen seines Verbandes küßt. Daß er den Wolfsgruß gewählt hat, bescheinigt dem Fußballer eine gewisse Unbedarftheit. Aber er ist ja auch nicht Nationalspieler, weil er etwa Einsteins Relativitätstheorie beweisen könnte.
 
Wesentlich peinlicher als die peinliche Geste ist die heute typisch deutsche Reaktion darauf. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) nannte Demirals Tun „völlig inakzeptabel“. Abgesehen davon, daß die deutsche Ministerin in diesem Fall überhaupt nicht gefragt ist, wäre mehr Selbstreflexion angezeigt. Faesers Auftritt in ärmelloser Bluse mit Regenbogenbinde auf der Tribüne eines WM-Stadions in Katar war der Tiefpunkt deutscher Diplomatie und der Höhepunkt aller moralistischen Aufregungsrituale – und völlig inakzeptabel.
 
Der Kommentar erschien am 4. Juli in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.