Der Stern, der vom Himmel fällt
Nicht nur große, sondern selbst einfache Fragen führen selten zu einer einzigen und klaren Antwort, mit der dann alles geklärt - aufgeklärt - ist. Vielmehr können oftmals mehrere Erwiderungen oder Erläuterungen gleichberechtigt nebeneinander bestehen, wie auch Kafka in seinen Tagebüchern feststellt. So selbstverständlich dies ist, es bedeutet nicht nur nebenbei, daß nach jeder erläuternden Feststellung weitere Fragen auftauchen, deren Antworten dann dasselbe Schicksal erfahren, wie in den Zeilen zu lesen ist, die Erich Kästner „Sokrates zugeeignet“ hat: Das Fragen bleibt den Menschen aufgegeben. Mit seiner Hilfe können sie schrittweise das Wissen ansammeln, über dessen Erwerb sie sich dann ein Leben lang freuen können, weil es nie zum Abschluß kommen wird.
Es gilt, sich klarzumachen, daß die eben geschilderte Situation bei aller Neugierde gerade das nicht liefert, was Philosophen der Aufklärung im Grunde ihres Herzens erwartet haben. In ihrer Sicht können Menschen vernünftige Fragen über die Welt stellen und darauf vernünftige Antworten geben, und mit ihnen wissen sie dann ein für alle Mal Bescheid. Das meinten Kant und seine Kollegen. Aber die Verhältnisse, sie sind nicht so. Auf vernünftige Fragen - „Was ist Licht?“ oder „Was ist Wasser?“ - gibt es mehrere vernünftige Antworten: Licht ist Welle und Teilchen zugleich, und Wasser ist sowohl ein Molekül (H2O) als auch eine Flüssigkeit. Und diese Antworten können sich sogar widersprechen. Das ist in der Epoche, die nach der Aufklärung kam, den neugierigen Menschen erstmals aufgefallen und hat ihnen dann sogar gefallen. Gemeint ist die Romantik. Deren Vertreter bemerkten auch, daß es neben den in der Welt vorgefundenen Tatsachen noch die von Menschen geschaffenen Werte gibt. Auch sie spielen bei vielen Antworten mit - und beileibe nicht nur bei Diskussionen über Themen der Art: „Was muß man wissen?“, „Auf wen soll man hören?“, „Was ist ein gutes Leben?“ oder „Was macht einen Menschen fröhlich?“ Sondern auch, wenn man zum Beispiel herausbekommen möchte, warum die Sterne funkeln und warum sie nicht vom Himmel fallen. Eine zufriedenstellende Antwort darauf kann sich nicht auf physikalische Tatsachen beschränken. Eine „rationalistische Erklärung“, wie Kafka es genannt hat, reicht nicht. Vielmehr kommt es auch auf das seelische Gemüt an, das sich an der kosmischen Glitzerwelt in der Nacht ergötzt und es dem Philosophen Kant erlaubt hat, sein inneres Moralgesetz an dem Sternenmeer auszurichten.
Bevor sich die Wissenschaft den funkelnden Himmelsobjekten zuwenden konnte, hat sie sich über das Gegenstück gewundert, nämlich die Dunkelheit zwischen den Sternen. Mit ersten Überlegungen dazu berühmt geworden ist der astronomisch tätige Arzt Heinrich Olbers aus Bremen. Er wollte im frühen 19. Jahrhundert verstehen: „Warum wird der Himmel nachts dunkel?“ Seine Zeitgenossen fanden diese Frage eher albern, meinten sie doch, die nach der Dämmerung einsetzende lichtlose Zeit durch den Untergang der Sonne klären zu können. Aber erstens geht der von der Erde umkreiste Zentralstern nicht unter, wie die Menschen seit den Tagen von Kopernikus wissen können, und zweitens sollte es im kosmischen Raum, der weit und groß genug scheint und vielleicht unendlich viel Platz bietet, nach Ansicht von Olbers genügend andere Strahlungsquellen von der Helligkeit der Sonne geben, um so den Himmel auch in der Nacht leuchten oder zumindest hell erscheinen zu lassen. Warum also wird es auf der Erde abends dunkel? Die moderne Physik kann diese Frage beantworten, wenn sie von dem erwähnten Urknall ausgeht, wie an der entsprechenden Stelle im Buch genauer ausgeführt wird (allerdings erst im zweiten Kapitel). Doch dieser voraussetzungs- und trickreichen wissenschaftlichen Erläuterung läßt sich eine die Menschen bewegende Sichtweise an die Seite stellen. In ihrem Blick nimmt der Nachthimmel die Farbe Schwarz an, damit die Erdenbürger die Sterne über ihren Köpfen überhaupt sehen können. Die funkelnden Gebilde befinden sich ja auch tagsüber am Firmament, nur reicht die Helligkeit der leuchtenden Körper nicht aus, um das Sonnenlicht auszustechen und sie den Augen zu erkennen zu geben. In der Nacht können die Sterne dafür umso eindrucksvoller vor einem schwarzen Hintergrund leuchten.
Diese Möglichkeit, eine Frage nicht mit einer wirkenden Kausalkette, sondern von einem Ziel her zu beantworten, läßt etwas Grundsätzliches erkennen: Gemeint ist die Möglichkeit, auf gute und große Fragen mehr als eine lohnende Antwort zu geben. Als sich Aristoteles darüber wunderte, warum Gegenstände zur Erde fallen, kannte er das Konzept der Schwerkraft nicht, das erst durch Newton in die Welt gekommen ist. Aristoteles argumentierte vom Endpunkt der Bewegung her und meinte, daß Gegenstände aus den gleichen Gründen auf den Boden fallen wie Menschen abends in ihr Bett, nämlich weil sie dort ankommen und sein wollen. Was das Fallen von Gegenständen angeht, so hatte ich einmal Gelegenheit, mit den Mädchen und Jungen in einem Kindergarten einige Themen mit wissenschaftlichem Hintergrund anzusprechen. Als ich dabei wissen wollte, warum die Sachen, die man losläßt, auf den Boden fallen, wunderte sich ein Mädchen. „Wieso denn nicht?“, meinte sie. „Es gibt nur noch Dinge, die nach unten fallen, die anderen, die nach oben fallen, sind schon längst weg.“
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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