Wir müssen unser Wissen zurücknehmen

Herwig Mark inszeniert Friedrich Dürrenmatts „Die Physiker“

von Frank Becker
Wuppertaler Kinder- und Jugendtheater: „Die Physiker“
 
Wir müssen unser Wissen zurücknehmen
 
Herwig Mark inszenierte den Klassiker von Friedrich Dürrenmatt 
für ein begeistertes jugendliches Publikum.
 
Mit sicherer Hand nahm sich Herwig Mark ein Stück vor, das nur geringer Bearbeitung bedurfte, um so aktuell wie 1961 den Nerv zu treffen. War es damals die Atombombe, deren Gefahr wie ein Alpdruck auf der Welt lastete, haben sich die Köpfe der Hydra mittlerweile vervielfacht; oder ist das Bewußtsein für die Gefahren heute entwickelter? Vom unverantwortlichen Umgang mit nuklearen Energien, Zerstörung und Vergiftung der Natur durch Raubbau, Chemieabfälle und Tankerkatastrophen über chemische und biologische Kriegsführung bis zum überheblichen Eingriff in die Natur durch Genveränderung spannt sich der Bogen (selbst-) mörderischer Ausschöpfung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Schaf Dolly schaut als ständige Mahnung daran aus der Kulisse.
 
     Den jugendlichen Zuschauern war die Problematik wohl bewußt - Diskussionen zum Thema waren schon vor Beginn im Saal zu hören. Dürrenmatt kleidete das Problem der Verantwortlichkeit und Verantwortungslosigkeit der Wissenschaft in eine schwarze Komödie: der geniale Wissenschaftler Möbius (Rainer Kreusch) hat eine so furchtbare Entdeckung gemacht, daß er sich als vermeintlich Wahnsinniger in ein Irrenhaus flüchtet, wo er in der Isolation sein Geheimnis sicher aufbewahrt glaubt und wo er im Stillen weiterarbeitet. Zwei Mitpatienten, „Newton“ (Udo Dülme) und „Einstein“ (Tobias Wessler) decouvrieren sich, nachdem sie aus Angst vor Entlarvung zwei Krankenschwestern erwürgt haben, Möbius dennoch als Agenten rivalisierender Geheimdienste, die ihm als Irre getarnt gefolgt sind, um ihn auszuforschen und anzuwerben. Nachdem Möbius ebenfalls seine Pflegerin erwürgt hat, weil Entdeckung drohte, scheint die ganze Verschwörung aufzufliegen, weil der clevere Kriminalinspektor Voß (Dieter Marenz) sehr kluge Fragen stellt. Hier schaltet sich die Irrenärztin Dr. von Zahnd (Rita Reineke) ein, ein mißgestaltetes spätes Mädchen, die über ihre Patienten die Hand hält. Den dreien gegenüber erklärt sie indes offen, ihre Maskerade durchschaut und längst sämtliche Forschungsergebnisse kopiert und genutzt zu haben - ganze Industrien stellen bereits das unerhörte tödliche Produkt im Interesse des Militärs her, alle Mühen Möbius', alle drei Morde sind umsonst gewesen. Den drei Männern bleibt nur eine Wahl: als Irre unbehelligt zu bleiben oder als Gesunde entlassen und wegen Mordes verhaftet zu werden. Sie bleiben, denn: „Nur im Irrenhaus sind wir noch frei, nur im Irrenhaus dürfen wir noch denken, in der Freiheit sind unsere Gedanken Sprengstoff.“ Ein Irrtum, wie man weiß - siehe oben. Schaf Dolly zeigt am Ende das Hinterteil, eine Laudatio an die freie Wissenschaft und Forschung.
 

Rainer Kreusch als Möbius in „Die Physiker“ - Foto © Daniela Höhmann

     Tobias Wessler, Udo Dülme, Dieter Marenz, Rita Reineke, Suzana Sucic und allen voran Rainer Kreusch lieferten eine überzeugende Leistung ab, unterstützt von einem ausgezeichneten Ensemble. Vor allem Kreusch erzeugte beim Publikum eine enorme Identifikation, die gebührend über Applaus honoriert wurde. Herwig Mark konnte die Rechnung aufgehen sehen, ein kritisches und bewußtes junges Publikum zu fesseln und mit viel Gesprächsstoff zu entlassen.
 
Die sehenswerte Aufführung sei unbedingt allen empfohlen (der Eintrittspreis ist niedriger als der einer Kinokarte!), Termine, evtl. auch für Sondervorstellungen sind unter Tel. 0202 - 899154 beim KJT zu erfragen (09.00 - 12.00 h).