Der halbe Rigoletto

Wenig Vergnügen bei der Hagener Premiere gestern Abend

hatte Peter Bilsing
Wenigstens der halbe Rigoletto
 

Versuch eines Premierenberichts trotz extremer Sichtbehinderung
 
Premiere Theater Hagen - 10. Januar 2009
 
Der große Musiktheater-Regisseur Kurt Horres hat mir zu seinen Zeiten als Düsseldorfer Intendant bei einer Diskussion einmal gesagt: „Lieber Herr Bilsing, das dürfen sie alles nicht so streng und realistisch sehen. Das ist Kunst!“
 
Immerhin konnte ich aber wenigstens bei allen seinen Opern-Inszenierungen stets die ganze Bühne sehen. Eine Selbstverständlichkeit meinen Sie? Gestern beim „Rigoletto“ von Gregor Horres sah und hörte ich leider nur die Hälfte. Kleben Sie sich bitte einmal eine Zeitung quer über ihren schönen neuen großen Plasmabildschirm – diagonal von links unten bis nach rechts oben! Das war der Blick, den ich von meinem Kritikerplatz (vorletzte Reihe, links außen unter zwei Balkonen!) hatte. Wie lange schauen Sie dann noch ihren Lieblingsfilm CASABLANCA? Ich hab es, fairerweise, bis zur Pause durchgehalten. Immerhin freut es aber doch, wenn wenigstens das Hauspersonal gute Plätze in der Parkettmitte hat.
 
Malaisen

So ist es eigentlich auch kaum möglich, Musikalisches ernsthaft zu bewerten, doch wenn das Orchester (Ltg. Florian Ludwig) schon bei den allerersten Tönen wackelt, hört man dies auch vom schlechtesten Platz. Ich wünschte mir wenigstens in der Entführungsszene etwas schnellere Tempi, aber das ist Geschmackssache und überhaupt, bitte mehr Drive und Ausgeschlafenheit. Diese Musik muß das Herz berühren, den Puls beschleunigen und die Seele umschlingen!
 Für Stefania Dovhan scheint mir die Partie der Gilda einfach zu groß und zu schwierig – vielleicht kommt sie auch zu früh. Ihrer Stimme tut das keinesfalls gut. Von Fehlbesetzung wage ich angesichts dieser für mich so schlechten Rahmenbedingungen nicht direkt zu sprechen. Ricardo Tamura mit seiner recht hoch gelegenen Tessitura versucht sich in den Fußstapfen eines Pavarotti und übernimmt leider auch dessen Malaisen. Für Frank Dolphin Wong (Rigoletto) kommt diese, seine „Wunschpartie“ ebenfalls zu früh. Man nimmt dem jungen Burschen einen emotional gequälten und zerbrochenen Vater nicht recht ab. Gesanglich ist aber auf einem guten und gesunden Weg, immerhin hat seine Partie gut im Griff. Mit etwas mehr Reife und Emotionalität wird er in einigen Jahren ein guter Rigoletto sein.
 
An der Rampe

Mein Gesamteindruck war, daß alle Sänger stets nur irgendwie herumstehen. Alle agieren seltsam neben ihren Figuren. Nichts berührt in dieser emotionslosen, unterkühlte Atmosphäre. Man hat den

An der Rampe - Foto: Theater Hagen
Eindruck, der Regisseur wolle eigentlich ständig nur eines: große Oper vermeiden. Das endet dann im Rampengesang und leeren Gesten. Schade! Einziger Lichtblick: der Chor (Ltg. Brigitta Franzen). Wunderbar disponiert ist er, und da die Herrschaften ebenfalls immer schön zum Singen an die Rampe traten, auch perfekt akustisch wahrnehmbar.
 Von Regie und Bühnenbild konnte ich immerhin alles, was sich unten mittig abspielte nachvollziehen; da Regisseur Horres aber die Bühne nicht nur in voller Breite und Tiefe, sondern auch mehrstöckig benutzte, war das vergleichsweise wenig. Gleiches gilt für Jan Bammes mehrgeschossige Ausstattung. Dafür waren die vielen bunten Fantasy-Kostüme sehr schön. Rätselhaft nur die anscheinend aus dem Kölner Karneval entliehenen Kopfmenschen mit ihren verzerrten Fratzen.
 Des Herzogs Hofgesellschaft, lauter buntbefrackte Dekadenzler, feiert und gastiert in recht leeren Räumen, deren Zentrum veritable Klo-Schüsseln - in Form weiblicher Gesäße - als Sitzgelegenheiten mit kurzer Rückenlehne dienen. Weiter oben hatte der Herzog sein „Thrönchen“ – erkennbar an der längeren Rückenlehne. Leider kennen wir alles schon lange aus Bunuels „Diskreten Charme der Bourgeoisie“ bzw. dem „Cage aux Folles“. Da hatte es Sinn, hier leider keinen!
 
Unter der Gürtellinie

Warum die Hofgesellschaft sich in einer Art hüpfendem Kreistanz ergehen muß, welcher aussieht, als bewegen Indianer sich in einem billigen Western ums Lagerfeuer, erschließt sich dem Bobachter ebensowenig, wie das permanente gegenseitige Kontaktieren unter der Gürtellinie oder der wasserspitzende, mächtige rote Dildo, den Rigoletto bedienen muß. Das erinnert an billigen

Pot-au-feu mit Monterone - Foto: Theater Hagen
Schülerhumor in der Umkleide; spätpubertierendes Gehabe. Es fehlte nur noch, daß man sich gegenseitig auch noch die Hosen runterzieht. Na ja, vielleicht fand ja außerhalb meines Blickwinkels noch Sinnvolleres auf der Bühne statt.
 Graf Monterone (Rolf A. Scheider) erscheint als eine Art Eremit, ständig das Bildchen seiner Tochter vor sich hertragend. Das wirkt mehr friedfertig als bedrohlich, und erst als er sich einen Kanister Benzin über den Kopf schüttet, wird er ernsthaft wahrgenommen. Das kleine Feuerchen, welches sich in einem schmalen Beet dann vor ihm veritabel entzündet, erinnert eher an das Fondue-Flämmchen des Pot-au-feu beim Silvester-Familienessen. Lachhaft? Nein, um Gottes Willen. Ich habe ja irgendwann gelernt, daß das eben Kunst ist.
 
"Pssst! Das ist Kunst!"

Wieso die Partie des Sparafucile tenoral vermittelt und nicht mit einem Baß besetzt wurde, ist rätselhaft. So fehlt dem Auftritt von Orlando Masons in dieser Rolle jede Bedrohlichkeit und Dämonie. Schön, daß Gilda wenigstens neben einer stattlichen Ordensschwester auch ein weißer Stoffhase für ihr Seelenheil zur Verfügung steht. Die Entführung verläuft ebenerdig – auch der dekadente Rollstuhlfahrer ist wieder dabei – während Rigoletto augenverbunden die Leiter hält. „Wozu eigentlich die Leiter? Fragt mein Sitznachbar. „Pssst! Das ist Kunst!“ zische ich zurück.
 
Erlösende Pause. Ab nach Hause. Mehr ging wirklich nicht, ohne ernsthaft Schaden zu nehmen. Heim zu meinem prächtigen 129-er Plasma-TV, die Rigoletto-DVD eingelegt und den zweiten Teil dieser herrlichen Verdi-Oper mit meinen Freunden Plácido Domingo, Ileana Cotrubas, Cornell McNeil & Johnny Walker wunderbar ohne Sicht- und Höreinschränkung und in DTS zu Ende genossen. Kein schöner Abend für Gilda, aber immerhin noch einer für den Kritiker.

Redaktion: Frank Becker