Die digitale Bohème

Ein Bericht aus Berlin

von Jörg Aufenanger

Die digitale  Bohème von Berlin


Bohème? – das waren doch einst jene, die den ganzen Tag in einem Caféhaus vor einer Tasse Kaffee verbrachten, die sie dann noch anschreiben ließen, die von Dichtung sprachen, von Malerei, sich die Köpfe heißredeten, des nachts in ungeheizten Zimmern hausten, entweder irgendwann wie Mimi an Schwindsucht dahinsiechten oder täglich ins Kaffeehaus zurückkehrten, und die Spießer, das waren alle anderen als sie selbst, verachteten. Bohème das war mal eine Art das Leben zur Kunst zu erklären. Lang lang ist’s her.

Doch es gibt sie wieder, die Bohème, selbsternannt und diesmal digital. Auch diese Spezies ist häufig in Cafes anzutreffen, bei einem Latte Macchiato, den Laptop vor sich, und man fragt sich, was tun die da eigentlich, wenn sie stets allein vor ihrem digitalen Anhängsel sitzen?
In der Fauna Berlins, wo fast jede Pflanze blühen und schnell wieder verblühen kann, ist digitale Bohème zu Hause, hat sich in der Kulturszene eingenistet und blickt ein wenig verächtlich auf die Spießer der analogen Bohème von gestern.

Vor etwa zehn Jahren gab es in Paris schon mal eine Bohème neueren Typus, die des Bohème Bourgeois, kurz Bobo genannt. Die Bobos gefielen sich darin, gut bezahlte Jobs anzunehmen und schnell wieder aufzugeben, um einen noch besser bezahlten zu übernehmen. Zwischendurch war exzessive Partytime.

Die digitale Bohème macht indes Ernst und hat mit dem Buch „Wir nennen es Arbeit – oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“ eine Art Manifest verfasst. Die Autoren Holm Friebe und  Sascha Lobo entstammen der Zentralen Intelligenz Agentur, kurz ZIA. Sie ist Keimzelle der neuen Bohème, ist ein Netzwerk von Freiberuflern. Eine ironische Firma, ja eine Tarnkappenfirma nannte man sich, die nur auf einem Server und in den Köpfen der Agenten bestanden habe, zu der auch die Gruppe der Höflichen Paparazzi gehörte. Was zu Beginn mehr dem Spaßfaktor frönte, entwickelte sich im Laufe der Zeit zu einer Plattform von Projekten und Ideen, in die mit dem Erfolg der Ernst der Arbeit einzog.

 „Die ZIA verwandelt intellektuelle Obsessionen in geschmeidige Kulturformate,“ heißt es in der Agentur-Philosophie, und so sind ihre Agenten derzeit überall präsent, in Zeitungen wie „Jungle World“ oder „Der Berliner“, in Zeitschriften wie dem „Spiegel“. Die bekannteste Agentin Kathrin Passig hat gar mit einer Erzählung den letzt jährigen Bachmann-Preis in Klagenfurt eingeheimst. Moorbooks, die Literaturagentur der ZIA-Agenten frohlockt, will doch derzeit fast jeder Verlag sein Programm mit ihren Texten schmücken. Treten sie in Berlin auf, etwa im Münzclub, an deren Türsteherin im englischen Gouvernantenstil nur der vorbeikommt, der sich -natürlich per E-Mail - angemeldet hat, so sitzen junge Menschen ihnen in Scharen zu Füßen, lauschen den prophetischen Worten und ihren maßvoll skurrilen Geschichten. Die Welt verändern will die ZIA nicht, aber immerhin mit digitalen Freiberuflern unterwandern: Wie willst Du leben? fragen sie Willst du jeden Morgen ins Büro, oder Deinen Tagesablauf selbst bestimmen? Die Antwort ist allen klar: Man will so arbeiten wie man leben will und nicht leben wie man arbeiten muß, will dennoch ausreichend aber nicht unbedingt viel Geld verdienen, will den „Weg der größten Freude“ gehen, wie es im Manifest heißt, ermöglicht durch das Internet, in das man seine Ideen und Projekte per Blog einstellt.

Das mag in Berlin möglich sein, wo schon immer eine bohèmehafte Gegenwelt existierte, selbst zu DDR-Zeiten am Prenzlauer Berg, lebt man hier doch weiterhin gut mit weniger Geld als anderswo. Aber wie soll das in Bottrop, München, Köln oder Hamm möglich sein? Die Fortschritte der Individualisierung durch die digitalen Techniken seien global, antwortet die ZIA. Man müsse die neuen Freiheiten nur nutzen. Immerhin gesteht sie ein, die digitale Bohème werde in absehbarer Zukunft nicht das dominierende Lebensmodell der breiten Masse sein, merkt die ZIA doch auch, dass sie selbst abhängig ist von den Festangestellten in den Verlagen, Werbeagenturen, Radiosendern, die ihre Projekte einkaufen.

Parasiten nennen manche die Freiberufler der digitalen Boheme, nützliche Idioten diese dann die Festangestellten. Ist diese Boheme nun ein neues Gesellschaftsmodell oder nur eine kurzzeitige Berliner Blüte ? Wer mitdiskutieren will, kann es tun unter den Blogs:
www.wirnennenesarbeit.de  oder  www.Riesenmaschine.de

© Jörg Aufenanger
Beispielbild

Holm Friebe/ Sascha Lobo
Wir nennen es Arbeit

Die digitale Bohème oder: Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung

© 2006 Heyne Verlag München
Geb., 304 S.,

17,95 €


Weitere Informationen unter:
www.randomhouse.de

www.Riesenmaschine.de