Die Dunkelheit der Nacht
Warum wird es nachts dunkel? Diese Frage wird in der Literatur unter dem Namen „Olbers'sches Paradoxon“ diskutiert. Man ehrt damit den Bremer Arzt Heinrich Wilhelm Olbers, der sich nachts als Astronom betätigte. 1820 gab er seine Praxis auf vorgeblich aus Gesundheitsgründen -, um sich mit einer Frage zu beschäftigen, die ihn irritierte und die er 1832, dem Todesjahr Goethes, so beschrieb:
Sind wirklich im ganzen unendlichen Raum Sonnen vorhanden, sie mögen nun in ungefähr
gleichen Abständen von einander oder in Milchstraßen-Systeme vertheilt sein, so wird ihre
Menge unendlich, und da müßte der ganze Himmel ebenso hell sein wie die Sonne. Denn
jede Linie, die ich mir von unserem Auge gezogen denken kann, wird nothwendig auf
irgend einen Fixstern treffen, und also müßte uns jeder Punkt am Himmel Fixsternlicht,
also Sonnenlicht zusenden.
Mit anderen Worten: Wenn es unendlich viele Sterne gibt, was Olbers für selbstverständlich hielt, stellte sich die Frage: Warum sieht der Nachthimmel schwarz und nicht wie die weiß gestrichene Decke eines Zimmers aus? Unermeßlich viele Sterne sollten ein leuchtendes Firmament liefern. Oder?
Wer als Versuch einer Erklärung die Überlegung anbietet, daß die Helligkeit der Sterne mit der Entfernung zu ihren Beobachtern abnimmt und die Himmelskörper erst immer weniger und zuletzt gar nicht mehr zu sehen sind, dem kann man mit der Tatsache begegnen, daß bei einer gleichmäßigen Besetzung des Himmels mit Sternen - und etwas anderes kommt ohne weitere Annahmen nicht infrage - die Zahl der strahlenden Objekte nach außen hin weiter zunimmt, und zwar gerade so, daß die abnehmende Leuchtkraft einzelner Sterne durch ihre wachsende Zahl ausgeglichen wird.
Die Frage „Warum ist es nachts dunkel?“ bleibt also bestehen, und sie irritiert die Wissenschaft, weil sie deren Vertretern in die Augen springt. Eine amüsante Antwort hat der Philosoph Hans Blumenberg vorgeschlagen. In seinem Buch über Die Vollzähligkeit der Sterne findet sich die Formulierung, daß man von der Erde aus gerade dann keine Sterne sehen könnte, wenn es nur Sterne gäbe. Tatsächlich: Wenn der Nachthimmel gleichmäßig von immensen Sternmengen erleuchtet wäre, dann könnten Menschen ein durchgängiges Weiß, aber keinen einzelnen Stern als einzelnes Objekt sehen. Die Dunkelheit der Nacht bietet den staunenden Erdbewohnern überhaupt erst die Chance, die leuchtenden Objekte separat am Himmel wahrzunehmen, von denen man seit Menschengedenken angenommen hat, daß mit ihrem Licht Botschaften aus höheren (jenseitigen) Sphären zur Erde kommen, deren Bedeutung astrologische Sterndeuter zu lesen versuchen.
Viele historische Überlegungen zum Olbers'schen Paradoxon haben sich auf die Möglichkeit gestützt, daß es nicht unermessliche viele Sterne, sondern nur eine endliche Anzahl von ihnen gibt. Doch die Annahme von abzählbar vielen Sternen führt zu dem Gedanken, daß Menschen in einer Welt leben, die nur endlich groß ist. Denn Wozu dient unendlich viel Platz, wenn er von niemandem gebraucht und nicht besetzt wird? Wo nichts ist, läßt sich auch nichts erkennen - weder eine Ordnung noch eine Unordnung. Ist das Schwarze weit draußen überhaupt noch ein Kosmos - dort, wo es nichts mehr gibt, womit man den Namen, der im Griechischen Ordnung oder Schmuck meint, recht“ fertigen könnte? Wenn das Universum nur endlich weit reicht, wie sieht sein Rand aus und was könnte sich dahinter befinden? Noch eine Form der Dunkelheit? Eine Finsternis? Oder eine ganz neue - und vielleicht bessere - Welt?
Mit anderen Worten: Die Frage nach der Farbe der Nacht und allgemein nach der Dunkelheit des Kosmos muß sorgfältiger bedacht werden, als man zunächst meint. Die Antworten erfordern gezielte Annahmen über die Welt und den Ort des Menschen in ihr. Solche Vorgaben sind nicht umsonst zu haben, und sie können nicht nur die Dimension des Raums betreffen. Man muß auch über die Zeit spekulieren, die dem Weltall seit seinem Anfang zur Verfügung steht. Je nach Länge der Zeit könnte es nämlich sein, daß Olbers und alle, die nach ihm kamen, die meisten Sterne am Himmel allein deshalb nicht sehen, weil sie derart weit entfernt sind, daß das von ihnen ausgehende Licht noch gar nicht genügend Zeit gehabt hat, um auf der Erde einzutreffen. Allerdings müßte man sich in diesem Fall darüber wundern, wie die Sterne selbst an diese so fernen Orte gekommen sind. Oder waren sie dort schon immer?
Diesen zuletzt geschilderten Zusammenhang hat als Erster ein Zeitgenosse von Olbers, der amerikanische Dichter Edgar Allan Poe, in Erwägung gezogen. Im Februar 1848 - ein Jahr vor seinem frühen Tod - sprach Poe in der Society Library in New York mehr als zwei Stunden über die Entstehungsgeschichte des Kosmos, über die „cosmogony of the universe“, wie es wörtlich bei ihm heißt. Merkwürdigerweise spricht man hierzulande statt von Kosmogonie lieber von einer Kosmologie, was zwar nach Logik klingt, trotzdem aber klanglich an die skurrile Astrologie erinnert. Traut man sich nicht zu, eine Kosmogonie oder eine der Astronomie vergleichbare Kosmonomie zu entwerfen, die nach den Gesetzen fragt, die bei der Entstehung des Himmels eine Rolle gespielt haben müssen und die viele Menschen kennen möchten?
Poe wollte eine dynamische Kosmogonie entwerfen, und er hat das Manuskript aus dem Jahr 1848 später in einem Essay mit dem Titel Eureka: A Prose Poem zusammengefaßt. Poe hat diesen Text seinem Helden Alexander von Humboldt gewidmet, dem die Menschheit neben unendlich vielen Einsichten in die lebende Natur die wundervolle Beobachtung verdankt, daß der Blick an den Himmel - also in den Weltraum - zugleich immer ein Blick in die Zeit ist, weil das Licht, das von den Sternen kommend die Augen erreicht, für die zurückgelegte Strecke oftmals viele Jahre benötigt hat und damit nicht nur aus der Tiefe des Raumes, sondern auch aus dem Brunnen der Vergangenheit kommt. Wer zum Beispiel das Sternbild Großer Wagen am Himmel ausmacht, sieht Strahlen, die vor mehr als einhundert Jahren ihre Reise durch den Kosmos angetreten haben. Die Astronomen geben kosmische Distanzen gern in Lichtjahren an. Damit ist die Strecke gemeint, die Licht in einem Jahr bewältigen kann. Bei etwa 300 000 km/sec ergibt das knapp 10 Milliarden Kilometer. Zum Glück ist die Sonne nur ein paar Lichtminuten und der Mond etwa eine Lichtsekunde vom irdischen Leben entfernt.
Zurück zu Poe, der sich ein pulsierendes Universum vor stellte, das wie ein schlagendes Herz expandieren und kontrahieren sollte. Wenn sich Poe, den die Dunkelheit mehr faszinierte als das Licht, in seinem Text dem Nachthimmel zuwendet, schreibt er:
Gäbe es eine endlose Folge von Sternen, dann würde uns der Hintergrund des Himmels
eine gleichförmige Helligkeit präsentieren, so wie sie die Milchstraße zeigt - denn dann
gäbe es in dem ganzen Hintergrund absolut keinen Punkt, an dem kein Stern existieren
würde. Das einzige Schema, mit dem wir unter diesen Umständen die Leere verstehen
können, die unsere Teleskope in unzählige Richtungen finden, müßte annehmen, daß die
Entfernung des unsichtbaren Hintergrunds derart riesig ist, daß noch kein Lichtstrahl von
da in der Lage gewesen ist, uns zu erreichen.
Poe spricht nicht nur die Geschwindigkeit des Lichts und das Alter der Sterne an, er bringt in seinem Vortrag zudem weitere originell und aktuell wirkende Ideen in die Debatte um den Kosmos ein. So antizipiert er den heute in Form von Galaxienhaufen nachweisbaren hierarchischen Aufbau des Universums als „cluster of clusters“ und vermutet sogar, was Einstein zu dem maßgeblichen Gedanken seiner Kosmologie machen wird, nämlich „space and duration are one“, Raum und Zeit bilden eine Einheit.
Das Faszinierende am Olbers'schen Paradoxon besteht darin, daß seine Erörterung es erfordert, sich einen kosmologischen Rahmen vorzugeben. Mit anderen Worten: Erst entscheidet man, wie man sich den Kosmos vorstellt, und dann wird zu erklären versucht, warum er unter diesen Vorgaben schwarz erscheint. Wer sich heute ein Bild des Universums machen will, muß Einsichten der Relativitätstheorie von Einstein nutzen und darf sich die Entstehung der Welt als eine Art von Schöpfungsakt aus einem singulären Punkt heraus vorstellen. Gemeint ist das kosmische Ereignis vor undenkbar ferner Zeit, das als Urknall („Big Bang“) bezeichnet wird und mit dem selbst die Hüter der katholischen Lehre im Vatikan ihren Frieden zu machen bereit sind - wenn man Gott die Erzeugung des großen Knalls überläßt (und ihm keine andere Wahl und keine weitere Freiheit läßt).
Beobachter sehen die Sterne am Himmel nicht so, wie sie jetzt aussehen. Sie sehen die Sterne am Himmel so, wie sie ausgesehen haben, als das Licht auf die Reise ging, das heute ein menschliches Auge erreicht. Sterngucker sehen am Himmel keine Gegenwart, sondern Vergangenheit. Sie sehen die Sonne, wie sie vor einigen Minuten ausgesehen hat, sie sehen den Polarstern, wie er vor Hunderten, und den Andromeda-Nebel, wie er vor Millionen von Jahren ausgesehen hat.
Man stelle sich nun einen Beobachter in einer sich dynamisch ausweitenden Welt vor, wie es die Abbildung zeigt, mit deren Hilfe der Astrophysiker Rudolf Kippenhahn veranschaulicht, warum der Blick in der Vergangenheit eine schwarze Wand zeigt. Das Menschlein blickt in die Vergangenheit und bis in die Zeit zurück, als es noch keine Sterne gab. Die Materie konnte damals überhaupt noch keine Strukturen bilden, wie die Physiker wissen. Sie können zudem Auskunft geben über das, was es noch weiter draußen, also noch weiter zurück in der Vergangenheit, gegeben hat. Konkret können sie die Zeit ins Auge fassen, als nach dem Urknall rund 300 000 Jahre vergangen waren. Dies ist der Augenblick (!), „in dem die Welt gerade durchsichtig wird“, wie Kippenhahn in seiner Kosmologie für die Westentasche schreibt. Danach - wenn das Weltall weiter abkühlt - können Atome entstehen, und sie lassen Licht durch. Vorher bestand der Kosmos aus einer Art Plasma, das für Licht so undurchlässig war wie dichter Nebel. Das Schwarz des Himmels ist also „eine undurchsichtige Wand von 3000 Grad Kelvin“, so Kippenhahn. Und er fügt einschränkend hinzu: Es ist nicht so, „daß die Materie Weiter draußen heute noch undurchsichtig wäre, nein, sie war es damals, als sie das Licht aussandte, das uns heute erreicht. Weiter hinaus, oder, besser gesagt, weiter zurück in die Vergangenheit reicht unser Blick nicht.“
Was sich nachts am Himmel zeigt, ist das Universum zu einem Zeitpunkt, als es noch undurchsichtig war. Das heißt genauer, daß der Stoff, aus dem die damalige Welt war, kein Licht durchließ. Materie im heutigen Sinne mit Atomen gab es so kurz nach dem Urknall noch nicht. Dazu war es zu heiß. Die elementaren Teilchen - Protonen und Elektronen - versuchten sich zwar aufgrund ihrer unterschiedlichen Ladung einzufangen (um ein Wasserstoffmolekül zu bilden), aber immer wieder kam ein Lichtteilchen vorbei und trennte, was sich anfänglich und eigentlich finden wollte. Erst als das Weltall auf 3000 Grad Kelvin abkühlte, blieben die Atome zusammen und das Licht konnte passieren.“ Damit scheint das Olbers'sche Paradoxon aufgelöst - aber noch nicht ganz. Immerhin ist dabei von einer Temperatur von vielen Tausend Grad die Rede. Selbst wenn dies von einem superheiß gedachten Urknall aus gesehen nach wenig klingt, so bleibt doch zu konstatieren, daß jede derart erhitzte Materie weiß zu glühen anfangen und hell leuchten würde. Sie sieht aber pechschwarz aus. Wie hebt die heutige Physik diesen Widerspruch auf?
Die Antwort steckt in der Relativitätstheorie und der mit ihr möglichen Idee, daß sich das Universum ausdehnt. Die Materie bewegt sich von der Erde weg, was dazu führt, daß das Licht, das uns erreicht, energiearm und langwellig geworden ist. Das Licht ist so langwellig - nicht langweilig - geworden, daß menschliche Augen es nicht mehr registrieren können. Wohl aber die Geräte der Astronomen, die es als die berühmte kosmische Hintergrundstrahlung erkennen lassen. Um es in den schönen Worten von Kippenhahn zu sagen: „Daß es nachts dunkel wird, zeigt uns, daß es die Sterne nicht seit jeher gibt und daß sich das Weltall ausdehnt. Es verwundert, daß für die Beobachtung, die uns zu solchen grundlegenden Eigenschaften des Weltalls führt, keine Riesenteleskope und auch kein Fernrohr in einer Umlaufbahn nötig sind. Dazu genügt allein der Blick aus dem Fenster.“
Ihn bringt natürlich nur zustande, wer seine Augen vom TV-Bildschirm löst und sich selbst ein Bild vom Wunder des Nachthimmels macht. Diese Art des Fernsehens ist doch viel schöner als das vor dem flimmernden Kasten im Wohnzimmer.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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