Erstarrt in vollkommener Entrücktheit

Ernst Barlachs „Schwebender Engel“

von Jürgen Koller

Ernst Barlach, Der Schwebende - Foto © Margot Koller

Erstarrt in vollkommener Entrücktheit
 
Volkstrauertag - Gedanken zu
Ernst Barlachs „Schwebender Engel“
 
Als sich im August des Jahres 1914 Europas Völker in einen Taumel des Untergangs aller zivilisatorischen Werte stürzten, waren es auch die deutschen Künstler, die sich in nationalistischer Verblendung in die vorderste Front der Kriegsbegeisterten drängten. Maler wie Max Liebermann oder Lovis Corinth, aber auch Bildhauer wie Franz von Stuck oder Ernst Barlach sehnten sich, ähnlich wie Thomas Mann, nach der „reinigenden Wirkung (des Krieges) auf das deutsche Volk“ und hofften darauf, daß „der Krieg zur Katharsis“ führen möge. Barlachs 1914 geschaffene Bronze „Der Rächer“, ein nach vorn stürmender, das Schwert zum Streich ausholender Kämpfer, belegt das anschaulich. Doch spätestens im Kriegsjahr 1916, nach seinem Soldatendienst als Landsturmmann, schlug auch bei Barlach der „Hurra-Patriotismus“ in ein Nachdenken über die Sinnlosigkeit des Leidens der Soldaten in den Schützengräben bei Nässe und Frost um. In einem Brief von ihm aus dieser Zeit heißt es, daß man erst den „Frost“, sprich die ganze Not, selbst kennen gelernt haben müsse, um „die stillen Zeiten im nassen Schützengraben, die unermeßliche Geduld, die edle Geduld, in langen Nächten eine übermenschliche Art Stillhalten, wenn das Ungeziefer der Trostlosigkeit, Ernüchterung, Langeweile die Seele zugleich frißt und beschmutzt“, künstlerisch reflektieren zu können. Ernst Barlachs in den Kunstblättern „Der Bildermann - Steinzeichnungen für das deutsche Volk“ von 1916 veröffentlichte Grafiken sind deshalb u.a. mit „Dona nobis pacem!“ betitelt.
 
Bereits wenige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde damit begonnen, in den Städten und Dörfern Deutschlands Ehren- und Mahnmale für die im Kampf Gefallenen zu errichten. Über 100.000 solcher Gedenkstätten gibt es heute noch in Deutschland, darin eingeschlossen Denkmale für die Befreiungs- und Einigungskriege von 1806 -13 und für die Kriege 1864, 1866 und 1870/71. Das gestalterische Spektrum reicht von schlichten Steinen mit den Namen der gefallenen und vermißten Landsleute über Pietà- Gestaltungen, wo eine Mutter ihren Sohn beweint, bis hin zu Bildwerken in Stein, Bronze oder Beton, wo in naturalisierender oder abstrahierender Manier heldisches Soldatentum zelebriert wird. Auch Ernst Barlach erhielt solche Aufträge, doch seine Ehrenmale, sei es für Hamburg, Magdeburg oder Kiel, lassen jegliche nationalistische Überhöhung im Sinne von „im Felde unbesiegt“ vermissen. Für die 700-Jahr-Feier des Doms zu Güstrow im Jahre 1927 schuf Barlach – ohne Honorar - ein Ehrenmal für die Toten des Ersten Weltkrieges in Gestalt einer schwebenden Figur. Um die Skulptur „Der Schwebende“, oder auch „Schwebender Engel“, überlebensgroß, die an einer Kette waagerecht über Kopfhöhe hängt, sollte ein Raum der Ruhe mit gedämpften Licht sein. Barlach hat sein künstlerisches Wollen seinerzeit in die schlichten Worte gefaßt: „Alles diente dem Wunsch, eine Abgewandtheit aus der Gegenwart hin zu einer Zeit des unerhörten Geschehens glaubhaft zu machen, die schmerzvolle Erinnerung schlechthin zu symbolisieren, da die Nötigung, Symbol zu sein, der Gestalt durch den Anlaß gegeben war, der keinen Rückblick auf erschütternde Begebenheiten früher Zeit als gleich groß oder ähnlich mythisch zuläßt. Es war mir bewußt, daß ich einer Erstarrtheit in vollkommener Entrücktheit, gewissermaßen die Kristallisierung der Vorstellung von ewiger Dauer, formen mußte, um der Größe der Aufgabe zu entsprechen...“. Das Gesicht des Engels „gerät ihm“, so Barlach selbst, unabsichtlich wie das vom Schmerz geprägte Gesicht seiner Künstlerkollegin Käthe Kollwitz, die im September 1914 ihren Sohn Peter in Flandern verlor. Sofort mit der Machtübernahme 1933 galt die Kunst Barlachs den Nationalsozialisten als „entartet“. Neben den Mahnmalen in Hamburg, Magdeburg und Kiel wurde auch „Der Schwebende“ von Güstrow entfernt. Der Oberkirchenrat in Schwerin beschloß 1937 wegen der „Welle der Ablehnung des Denkmals in der Presse und Öffentlichkeit“ die Abnahme des Denkmals.
 
Aber damit ist die Geschichte des „Schwebenden“ noch nicht beendet. Der Erstguß wurde für die Rüstung der Nazis eingeschmolzen. Verbürgt

Ernst Barlach, Der Schwebende - Foto © Margot Koller
ist, daß Freunde Barlachs einen Zweitguß anfertigten, der den Krieg unbeschadet in einem Versteck überstand. Dieser Zweitguß hängt seit 1952 in der Antoniterkirche, in Kölns Schildergasse. Die ehemalige Klosterkirche wurde 1802 von der evangelischen Gemeinde als erste protestantische Predigtstätte im katholischen Köln übernommen. Im Jahre 1805 konnte die evangelische Gemeinde den ersten genehmigten Gottesdienst in einer Kirche feiern – diese freie Religionsausübung war letztlich ein Resultat der französischen Besetzung der Rheinlande. Wer heute von der lärmenden Einkaufsmeile Kölns kommend in die kleine City-Kirche eintritt, findet einen Raum der Stille und Besinnung – links im Seitenschiff hängt im Dämmerlicht „Der schwebende Engel“ über einer schlichten Platte mit den Inschriften 1914 -1918 und 1933 -1945, den Opfern der Nazi-Diktatur gewidmet. Zwei weitere Skulpturen Barlachs finden sich in der Kirche – ein Guß des „Lehrenden Christus“ von 1931 und der sogenannte „Kruzifix II“ von 1918. Im Jahre 1953 wurde vom Kölner Engel ein Drittguß abgenommen und der Domgemeinde Güstrow geschenkt, dort hängt er noch heute.
Ernst Barlach hat unter dem Verdikt, ein „entarteter Künstler“ zu sein, sehr gelitten. In der Nazi-Aktion „Entartete Kunst“ wurden 381 Arbeiten, einschließlich seiner Grafiken, aus öffentlichen Sammlungen und Museen entfernt, des weiteren wurde der Künstler mit Ausstellungsverboten belegt. All das hat zu seinem Herztod im Jahre 1938 beigetragen. An der Trauerfeier nahmen u.a. Käthe Kollwitz, Georg Kolbe, Konrad von Kardorff, Gerhard Marcks, Karl Schmidt-Rottluff, Heinrich Tessenow und etliche weitere Künstler-Persönlichkeiten aus demokratischer Zeit teil.
 
Da wir in diesem Jahr den 35. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und damit das Ende der SED-Diktatur begehen, sei noch auf ein markantes Kultur-Ereignis in der frühen DDR verwiesen. Im Dezember 1951 richtete die Ost-Berliner Akademie der Künste eine große Retrospektive des Werks von Ernst Barlach aus. In der parteioffiziellen Verunglimpfung im „Neuen Deutschland“ vom Januar 1952 hieß es dazu: „(Barlachs) Geschöpfe (sind) eine graue, passive, verzweifelte, in tierischer Dumpfheit dahinvegetierende Masse ...Barlachs Bauern sind dumpfe, tölpelhafte Urwaldbären, die einen ziemlich ausgeprägten Zug zum Tierischen haben.“ Zur Erinnerung, was im Nazi-Nachruf von 1938 stand: „Unerträglich artwidrig wirken aber solche Werke Barlachs, die aus heroischer Haltung empfunden und geschaffen sein müßten... Und der deutschen, d.h. germanischen Rassenseele wird Barlach allzeit fremd, ja widrig bleiben...“ Es war eben nicht weit zwischen diesen beiden Kunstdiktaturen! Bertolt Brecht rettete seinerzeit die Barlach-Ausstellung durch geschicktes Taktieren gegenüber der Kulturobrigkeit in der Zeitschrift „Sinn und Form“.
 
Fotos © Margot Koller
 
Antoniterkirche, Schildergasse 57
50667 Köln, Tel. 0221 92584615