Die Vermessung des Himmels
Zurück zu den Fakten. Das Licht braucht etwas mehr als eine Sekunde, um vom Mond aus zur Erde zu kommen, die 384.000 Kilometer weit von ihrem Trabanten entfernt ihre kosmische Bahn zieht. Als die Apollo-Astronauten 1969 die erste Reise zum Mond unternahmen, brauchten sie etwas mehr als drei Tage, um von Florida aus ihr Ziel im Weltraum zu erreichen. Dieser Erfolg ermutigte den damaligen amerikanischen Präsidenten, seiner Weltraumbehörde als nächstes Ziel einen Ausflug zum Planeten Mars vorzuschlagen.
Zu hübschen Gesprächen auf Partys kann die Frage führen, warum die Startrampen für Weltraumflüge in der Nähe des Äquators liegen - in den USA im Süden von Florida und für europäische Flüge in Französisch-Guyana. Hat das mit dem Wetter oder der Attraktivität der Gegend zu tun? Oder nutzen die Ingenieure aus, daß die Drehung der Erde dort ihre größte Geschwindigkeit hat, was den Raketen kostenlos einen natürlichen Schwung verleiht, wenn sie ihre kosmische Reise antreten? Zurück zu dem Präsidenten, der die letzte Frage gar nicht verstanden hätte und vom Mars schwadronierte, ohne sich vorher zu erkundigen, wie weit denn der Nachbar der Erde von den USA entfernt ist. Die Auskunft dazu fällt schwieriger aus, als man anfangs denkt, weil die Bewegungen der Planeten nicht kreisförmig verlaufen. Deshalb können die Fachleute nur einen Durchschnittswert angeben, und der beträgt 70 Millionen Kilometer. Auf die Nachfrage, wie lange eine Reise zu dem erdnahen Planeten dauern würde, bekommt man mit allen Einschränkungen ein Minimum von neun Monaten genannt. Allerdings liegen die dafür nötigen Bedingungen nicht oft vor, und eine erfolgreich gelandete Marsmannschaft müsste auf dem fremden Planeten einige hundert Tage lang auf die nächste Gelegenheit für einen „raschen“ Transfer zurück nach Hause warten. Immerhin braucht ein Lichtsignal vom Mars nur etwa drei Minuten bis zur Erde (gegenüber den acht Minuten von der Sonne bis zur Erde).
Wichtiger als weitere Angaben zu den kosmischen Distanzen erscheint die Frage, wie Menschen solche Entfernungen bestimmen können. Den Abstand zum Mond kennt man heute auf Zentimeter genau. Seit der Apollo-Mission steht dort ein Spiegel, der Laserlicht reflektiert, und auf der Erde können Astronomen mit hoher Präzision die Zeit bestimmen, die ein Strahl hin und zurück benötigt. Aber wie sahen die Möglichkeiten zur Ermittlung von kosmischen Dimensionen aus, als man noch keine Reflektoren im Weltall aufstellen konnte?
Die Antwort verdankt sich der Existenz einer Gruppe von Sternen, die als Cepheiden bezeichnet werden. Dieser ungewöhnliche Name leitet sich von der Bezeichnung Cepheus ab, die ein Sternbild am Nordhimmel bekommen hat. Das erlaubt eine Nebenbemerkung. Die Menschen haben den Objekten über ihren Köpfen gerne Namen gegeben, die aus der griechischen Sagenwelt stammen - deren Kenntnis gehörte früher zur Bildung -, wobei man die Planeten schon früh mit dem altgriechischen Wort für Wanderer bezeichnete. Die einzelnen Wandelsterne bekamen Namen von Göttern - von Mars als Gott des Krieges und Venus als Göttin der Schönheit oder von Götterboten wie Merkur. Eines Tages dann griffen die Astronomen auf Cepheus zurück, den eher unbekannten Vater der Andromeda, die ihrerseits einer berühmten Galaxie ihren Namen gibt. Bereits im 18. Jahrhundert hatten aufmerksame Himmelsbeobachter bemerkt, daß es einen Stern in der heute eher als Kepheus geführten Konstellation gab, dessen Helligkeit schwankte, und diese zeitliche Verschiebung trat sogar periodisch ein.
Sterne mit variabler Lichtstärke hatten die Astronomen also bereits im 18. Jahrhundert bemerkt, aber richtig nutzen ließ sich diese Entdeckung erst, nachdem man sich im 19. Jahrhundert vornehmen konnte, das Pulsieren zu fotografieren und mit Hilfe der Bilder zu dokumentieren und zu analysieren. Um diese Aufgabe machten sich - merkwürdigerweise? - vor allem Frauen verdient, wobei die berühmteste unter ihnen taub war. Sie hieß Henrietta Leavitt, arbeitete am College-Observatorium der Harvard Universität und entdeckte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 2400 veränderliche Sterne (Cepheiden). Eines Tages richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf 25 von diesen Himmelskörpern, die in der Kleinen Magellanschen Wolke zu fotografieren waren. Dabei fiel ihr auf, „daß ein einfaches Verhältnis zwischen der Helligkeit der veränderlichen Sterne und ihren Perioden existiert“, wie Henrietta Leavitt 1912 ihrer Zunft mitteilte: Je größer die Helligkeit eines Cepheiden, so konnte sie zeigen, desto länger der Zeitraum zwischen den Maxima des Leuchtens. Dieser harmlos klingende Befund ist deshalb bahnbrechend für die Erkundung des Himmels, weil er es erlaubt, zwei beliebige Cepheiden am Himmel zu vergleichen und dabei ihre relative Entfernung zur Erde abzuleiten. Als es kurz darauf einem Team von Astronomen gelang, die Entfernung zu einem veränderlichen Stern als absoluten Wert zu bestimmen, hielt die Wissenschaft plötzlich einen Zollstock für das Universum in der Hand. Mit den Cepheiden wurde der Kosmos immer größer. Die Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm war von Leavitts Leistung so beeindruckt, daß man ihr den Nobelpreis für Physik verleihen wollte. Doch als sich die verantwortlichen Gremien endlich dazu entschließen konnten, war die große Henrietta Leavitt schon verstorben.
Der erdnächste Cepheid ist der Polarstern, der sich leicht am Himmel finden läßt, wenn das Sternbild des Großen Wagens sichtbar ist. Man nimmt dessen Hinterachse ins Visier und verlängert sie fünffach. Dann trifft das Auge auf den Polarstern, ohne allerdings mit unbewaffnetem Auge in der Lage zu sein, dessen Helligkeitsschwankungen zu erkennen. Dazu bedarf es technischer Hilfsmittel, die das Pulsieren erkennen lassen, das von der astronomischen Wissenschaft durch Kontraktionsbewegungen gedeutet wird. Ein kühler Cepheid zieht sich aufgrund der Schwerkraft zusammen und erwärmt das Sternen innere, das sich nun auszudehnen versucht, dies letztlich auch zustande bringt und sich nach vollbrachter Tat wieder abkühlt.
Wichtiger als der Mechanismus ihres Pulsierens ist an den Cepheiden die Tatsache, daß sie dem Blick in den Weltraum eine Orientierung gaben. Mit ihrer Hilfe lassen sich Entfernungen genau bestimmen, auch wenn sie unsere irdischen Vorstellungen übersteigen. Als Edwin Hubble in den frühen 1920er Jahren erkannte, daß das als Andromedanebel bezeichnete Gebilde eine eigenständige Galaxie neben der Milchstraße ist, erzielte er diesen Erfolg durch die Betrachtung eines variablen Punktes auf einer Fotoplatte. Die genaue Auswertung der verfügbaren Daten zeigte eine Distanz zur Erde von rund einer Million (!) Lichtjahre an. Diese Entdeckung allein hätte genügt, um Hubble berühmt zu machen. Aber er wurde die legendäre Figur, die er ist, durch eine andere Beobachtung, bei der sich ein als Rotverschiebung bekanntes Phänomen mit einer geeigneten Entfernungsbestimmung kombinieren ließ. Mit Rotverschiebung ist gemeint, daß sich die Wellenlängen der von Galaxien ausgehenden Lichtstrahlen von ihrer normalen Farbe hin zum roten Bereich verschoben haben. Die Wissenschaft erklärt dies genauer unter der Rubrik „Doppler-Effekt“. Im Alltag läßt er sich wahrnehmen, wenn die Sirene eines heranbrausenden Autos anders klingt als die eines davonrasenden. Mit Hilfe dieses nach dem österreichischen Physiker Christian Doppler benannten Effekts kann aus der Rotverschiebung auf die Geschwindigkeit geschlossen werden, mit der sich die lichtaussendende Galaxie von der Erde fortbewegt. Hubble stellte bei seinen Himmelsbeobachtungen fest, daß diese Geschwindigkeit mit zunehmender Entfernung immer größer wurde. Das ließ sich zurückrechnen, und so kam man zu dem sensationellen und aufregenden Schluß, den Einsteins Theorien dann sogar erklären konnten, daß es nämlich vor vielen Milliarden Jahren einen singulären Punkt gegeben haben muß, in dem alles Material im Weltall seine Reise in die Tiefen des Kosmos begonnen hat - mit einem Urknall, der so heißt, obwohl ihn niemand hören konnte.
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
|