Über die und über den Wolken

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Über die und über den Wolken
 
Wer zu den Sternen greifen will, muß sich an vielen Tagen erst durch die Wolken hindurcharbeiten, hinter denen die Freiheit grenzenlos zu sein scheint, wie einmal Reinhard Mey in einem Lied gesungen hat. Bislang ist vor allem von Sternen die Rede gewesen, obwohl der Blick der Menschen an den Himmel häufig an den Wolken hängen bleibt. Selbst die fiockigen Schäfchenwolken, die elegant zu schweben scheinen, wiegen viele Tonnen. Das wissen wir deshalb, weil sich von Flugzeugen oder Satelliten aus sowohl die Größe als auch der Wassergehalt einer Wolke ermitteln und aus beiden Zahlen ihr Gewicht berechnen läßt. Eine am Himmel schwebende Schönwetterwolke kann es mit ihren in Kilometern zu messenden Ausmaßen auf zoo Tonnen bringen. Und jetzt möchte man wissen, warum massive Dinger dieser Art nicht auf die Erde runterdonnern.

     Die Antwort kann bei aller Schwere kurz ausfallen: Die einzelnen Wassertropfen oder Eiskristalle in den Wolken sind so winzig und leicht, daß sie durch interne Winde schwebend in der Höhe gehalten werden. Dieser Auftrieb unterbleibt, wenn die Tropfen größer und schwerer werden, was man auf der Erde bald als Regen, Hagel oder Schnee zu spüren bekommt. Bevor der Niederschlag einsetzt, zeigen sich am Himmel Gewitterwolken, die durch die zunehmende Feuchtigkeit dichter und dunkler werden und in denen es zu immer mehr Kollisionen zwischen Wasser- und Eisteilchen kommen kann. In diesem Gewimmel werden die einen negativ und die anderen positiv auf geladen. Luftströmungen schaffen die leichten Eisteilchen nach oben und bewegen die schwereren Wasserpartikel in die andere Richtung, und so bildet sich zwischen der Wolkenunterseite und der Erdoberfläche ein elektrisches Feld aus, das massiv an wächst und sich zuletzt in einem Blitz entlädt. Dessen helles Leuchten kommt dadurch zustande, daß die elektrische Entladung den Molekülen der Luft einige äußere Elektronen weg schlägt, was Umordnungen nach sich zieht, in deren Verlauf Licht freigesetzt wird. Während die elektrische Entladung die Luft durchjagt, steigt die Temperatur in ihrem Umfeld, und mit ihr gerät der Luftdruck ins Schwanken, was als Donner wahr genommen wird und die meisten Menschen vermuten läßt, daß es das Leuchten des Blitzes ist, das dessen Grummeln oder Knallen verursacht. Tatsächlich werden sowohl das optische als auch das akustische Geschehen bei einem Gewitter durch die elektrische Entladung bedingt, die sich ihre Bahn bricht, wie gerade beschrieben worden ist.

Noch im 18. Jahrhundert konnte ein Gewitter die Menschen in Angst und Schrecken versetzen, wie Goethe in seinem 1774  verfaßten Briefroman Die Leiden des jungen Werthers beschrieben hat:

     Der Tanz war noch nicht zu Ende, als die Blitze, die wir schon lange am Horizonte leuchten gesehn und die ich immer für   
     Wetterkühlen ausgegeben hatte, viel stärker zu werden anfingen und der Donner die Musik überstimmte. Drei Frauenzimmer 
     liefen aus der Reihe, denen ihre Herren folgten; die Unordnung wurde allgemein, und die Musik hörte auf. [...] Diesen Ursachen 
     muß ich die wunderbaren Grimassen zu schreiben, in die ich mehrere Frauenzimmer ausbrechen sah. Die klügste setzte sich in 
     eine Ecke, mit dem Rücken gegen das Fenster, und hielt sich die Ohren zu. Eine andere kniete vor ihr nieder und verbarg den 
     Kopf in der ersten Schoß. Eine dritte schob sich zwischen beide hinein und umfaßte ihre Schwesterchen mit tausend Tränen. 
     Einige wollten nach Hause; andere, die noch weniger wußten, was sie taten, hatten nicht so viel Besinnungskraft, den  
     Keckheiten unserer jungen Schlucker zu steuern, die sehr beschäftigt zu sein schienen, alle die ängstlichen Gebete, die dem 
     Himmel be stimmt waren, von den Lippen der schönen Bedrängten wegzufangen.

Diese Szene verdeutlicht die Angst, die von noch unerklärlichen Phänomenen wie Blitz und Donner hervorgerufen wird. Sie kann ohne einen beruhigenden Rückgriff auf die Erklärungen der Physik nur durch Gebete gemildert werden. Erst wenn Menschen sehen, wie sie sich vor den Gefahren eines Gewitters durch eine Metallstange, also durch einen Blitzableiter, schützen können, kann man sie (vielleicht) beruhigen. Tatsächlich ist der Blitzableiter noch zu Goethes Lebzeiten erfunden und ein gesetzt worden. Allerdings fiel es dem merkwürdig schlichten Gegenstand, obwohl er sich als äußerst hilfreich erwies, schwer, im Vergleich zu dem Naturschauspiel von Blitz und Donner, die zudem noch direkt aus dem Himmel kommen, vor dem Urteil der Leute zu bestehen.

     Mit elektrischen Entladungen wurde zum ersten Mal 1752 in Frankreich experimentiert, bevor Benjamin Franklin den Blitzableiter in der neuen Welt populär machte, indem er im selben Jahr einen Drachen (!) bis zu Gewitterwolken aufsteigen ließ, um mit einem am Ende einer feuchten Schnur angebrachten Schlüssel einen elektrischen Funken zu ziehen und die Wolke zu entladen. Mit diesem riskanten Versuch bekamen Blitz und Donner physikalische Gründe, ohne noch weiter Platz für irgendeinen göttlichen Zorn zulassen, den es zu besänftigen galt. Blitze können nicht nur vertikal, sondern auch horizontal auftreten, wenn die elektrische Entladung auf diesem Weg besser vorankommen kann. Am schnellsten geht es meistens senk recht auf die Erde zu. Menschen, die bei einem Gewitter auf freiem Feld unterwegs sind, sollten sich auf den Boden legen, weil Blitze gerne den Weg in den Boden durch ihren Körper nehmen. In der Rückenlage können sie zudem die vertrackten Spuren einer Entladung besser verfolgen und sich fragen, woher der Blitzeschleuderer Zeus das himmlische Feuer bekommen hat, das er auf die Erde niedersausen läßt.

     Interessanter als dieses physikalische Geschehen in den Wolken erweisen sich trotz aller donnernden Dramatik die Ausbildungen ihrer Formen, die seit den Tagen des Aristoteles beschrieben werden. Im Laufe der Geschichte haben sich viele Bezeichnungen auf diesem Terrain etabliert. Wolken kommen in vier Höhenlagen vor, wie man heute sagen kann. Sie liegen meist im einstelligen Kilometerbereich und lassen sich in zehn Gattungen unterteilen, zu denen Kumuluswolken ebenso gehören wie Stratuswolken, um zwei populäre Namen zu nennen. Den Grundstein für die Klassifikation der Wolken hat zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Engländer namens Luke Howard gelegt. Dessen Vorgabe hat Goethe überzeugt, der sich im Alter noch mit Wolkenlehre und Meteorologie beschäftigt hat und in dem Gedicht «Howards Ehrengedächtnis» den Briten feiert. Ho ward hat auch als Erster erkannt, wie es zur Bildung von Wolken kommt, nämlich dann, wenn in der Luft eine bestimmbare Temperatur unterschritten wird, die heute Taupunkt heißt. Wird es kälter, kondensiert der unsichtbare `Wasserdampf an winzig kleinen Partikeln in der Luft, die dann als Kondensationskeime für Wolken dienen. Howards Einteilung der am Himmel schwebenden Gebilde in Cirrus-, Cumulus- und Stratuswolken kommt dadurch zustande, daß sich in den Wolken je nach Temperatur Eis und Wasser mischen. Das zugehörige Wechselspiel erlaubt es ihnen, die vielfältigen Formen anzunehmen, in denen Menschen dank ihrer Gestaltwahrnehmung unter anderem Gesichter zu erkennen glauben. Goethes Faust meint zum Beispiel, mit ihrer Hilfe seine geliebte Helena am Himmel zu sehen, «formlos breit und aufgetürmt fernen Eisbergen gleich», wie der Verliebte es ausdrückt, auch wenn es seinen Worten etwas an Wärme fehlt.

     Den Dichter hat an den Wolken nicht nur die Vielfalt der Strukturen fasziniert, sondern auch, daß sich in ihnen der irdische Wasserkreislauf zeigt, der schon die griechischen Philo sophen beschäftigte. Sie hatten verstanden, daß Wolken das lebensspendende und überlebensnotwendige Element aufnehmen, das unter anderem aus den Weltmeeren hochsteigt, bevor es wieder zur Erde hinabregnet und dort Flüsse und Seen füllt. Howard und Goethe haben bei aller Meisterschaft eine Wolkenart übersehen, die erst im späten 19. Jahrhundert bemerkt und auf den schönen Namen «Leuchtende Nachtwolke» getauft wurde. Ein Astronom in Berlin mit Namen Otto Jesse hat sie in Sommernächten als silbrig-weiße Gebilde beobachtet und er mitteln können, daß sie mehr als 80 Kilometer hoch über der Erde schimmert, während die bisher erwähnten Wolkenformen kaum mehr als ein Dutzend Kilometer über den Menschen schweben. Was im 19. Jahrhundert noch ein exotisches Phänomen war, gehört heute allgemein zum meteorologischen Wissen. Die meisten Berichte über leuchtende Nachtwolken stammen von der Nordhalbkugel. Die Himmelskundigen nehmen an, daß es die bei einem Meteoritenzerfall entstehenden Staubpartikel sind, die diesen Nachtwolken als Kristallisationskeime dienen. Wenn Sterne vom Himmel fallen, leuchtet der Himmel, was Menschen gefällt.

     Eben fiel das Wort Kondensation, mit dem der Übergang eines gasförmigen Stoffes in einen flüssigen Zustand gemeint ist. Bei Wasserdampf tritt er in luftiger Höhe ein, wenn es kalt genug wird. Der Begriff steckt auch in dem Namen für die Kondensstreifen, die Flugzeuge an den Himmel malen, wenn sie sich etwa 10.000 m über dem Meeresspiegel durch die Luft bewegen. Die Kondensstreifen, die man meteorologisch auch als Zirruswolken begreifen kann, bilden sich aus den Abgasen der Triebwerke, die aus Wasserdampf bestehen und rußhaltig sind. Erst kurz hinter den Düsen an den Flügeln zeigen sich die anfänglich unsichtbaren Abgase als sichtbare Kondensstreifen, nämlich dann, wenn sie stark genug abgekühlt sind.
 
 
© Ernst Peter Fischer
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.