Der Mond ist aufgegangen

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Der Mond ist aufgegangen
 
Als Gott - der Genesis zufolge - die Welt geschaffen hat, gefiel es ihm, ein großes und ein kleines Licht an den Himmel zu setzen. Das kleine zeigt sich ab und zu in der Lage, das große zu Verdunkeln, wie sich bei einer Sonnenfinsternis beobachten läßt, wenn der strahlende Stern im Zentrum des Planetensystems von dem Erdtrabanten verdeckt wird. Diese Erscheinung wird möglich, weil Sonne und Mond aufgrund höchst unterschiedlicher Entfernungen für einen irdischen Beobachter gleich groß zu sein scheinen - man spricht fachlich von scheinbar gleichen Durchmessern. Liegen alle drei - Sonne, Mond und Erde - auf einer Linie, kann es zu einer vollständigen Verdunklung kommen. Korrekt muß man eine partielle von einer totalen Eklipse unterscheiden. Im zweiten Fall ist die Sonnenkorona zu sehen; sie zeigt sich als Strahlenkranz, der sich einer Streuung an Elektronen verdankt.
     Bei einer totalen Sonnenfinsternis kann man an dem Zentralgestirn vorbeischauen, die Positionen von fernen Sternen unter diesen Bedingungen bestimmen und das Ergebnis mit den alten Ortsangaben vergleichen. Was auf den ersten Blick unnötig kompliziert und wenig zielführend klingt, wurde 1919 mit großer Spannung durchgeführt, um eine Vorhersage der Allgemeinen Relativitätstheorie von Einstein zu testen. Danach krümmt die große Masse der Sonne den sie umgebenden Raum. Das erlegt den an ihr vorüberziehenden Lichtstrahlen andere Wege auf und weist dadurch den Sternen am Himmel neue Orte zu. Genau diese Vorhersage der Theorie konnte beobachtet werden, was in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg dafür sorgte, daß Einstein wie ein Popstar bewundert wurde ~ wobei sich die von den verlustreichen Schlachten ermüdeten Menschen auch darüber freuten, endlich jemanden feiern zu können, der ihrer europäischen Kultur Größe verlieh und den Frieden unter den Völkern förderte.
     Apropos Einstein und der Mond: Als die revolutionäre Physik der Atome namens Quantenmechanik in den 1920er Jahren aufkam, wollte Einstein als einer ihrer Gründungsväter plötzlich nicht mehr mitmachen. Zu der im Bereich der Atome extrem erfolgreichen Theorie gehörte unter anderem die Behauptung, daß nur beobachtete Phänomene wirklich sind und Objekte ihre Eigenschaften erst durch eine Messung bekommen. «Aber der Mond steht doch weiter am Himmel, auch wenn ihn niemand anschaut», klagte Einstein, der sich bald von seinen philosophierenden Kollegen belehren lassen mußte. Sie erklärten ihm, daß der Erdtrabant natürlich seine Position beibehält, auch wenn sie nicht durch eine Messung - wörtlich - festgestellt wird. Aber der Silberglanz, mit dem der Mond die Täler füllt, in denen Verliebte spazieren, verschwindet mit ihnen, wenn sie nach Hause gehen.
     Mit diesen Anmerkungen fällt der Übergang zu der Frage leicht, welchen Einfluß der Mond auf das Leben hat. Hätte es ohne seine Anwesenheit auf der Erde die Bedingungen gegeben, die notwendig waren, um höhere Lebensformen entstehen zu lassen? Lange Zeit war die Antwort, daß der Mondumlauf die Rotationsachse der Erde stabil hält und auf dieser Weise die klimatischen Voraussetzungen für die Evolution liefert, die bis zum Menschen geführt hat. Inzwischen lautet die Auskunft der Planetenforscher anders, da sie mittels Computersimulationen zeigen konnten, daß der Riese Jupiter ausreicht, um die Achse der Drehung der Erde um sich selbst stabil und den Planeten der Menschen entwicklungsfähig zu Höherem zu halten.
Was auch ohne Wissenschaft am Mond auffällt, ist zum einen die Tatsache, daß er nur halb zu sehen ist ~ dabei bietet er Erdenmenschen immer dieselbe Hälfte an -, und zum Zweiten, daß es Mondphasen gibt, die vom Neumond über das zunehmende Stadium zum Vollmond führen, bevor das Abnehmen bis zum Neumond beginnt. Der Dichter Christian Morgenstern meinte, daß die in alter deutscher Schrift geschriebenen Buchstaben a und z die ab- und zunehmende Sichel des Mondes beschreiben, die deswegen mit ihrem Ort am Himmel den Begleiter der Erde zu einem deutschen Trabanten machen.
     Der Phasenwechsel Neu-, Halb-, Vollmond und zurück kommt dadurch zustande, daß immer nur eine Hälfte der Kugel von der Sonne angestrahlt wird. Je nachdem unter welchem Winkel Menschen auf der Erde den beleuchteten Mond betrachten, ent stehen für sie die Phasen. Wie man sich angesichts dessen klarmachen kann, befindet sich der Vollmond auf der Nachtseite der Erde. Wer dabei die Mondsichel genauer in Augenschein nimmt, wird bemerken, daß sie nicht schwarz ist und sogar schwach leuchtet. Dieses aschgraue Licht stammt von der Erde, die dafür ausreichend Sonnenlicht reflektiert.
     Zu den wundersamen Eigenschaften des Mondes gehört die Tatsache, daß er eine erdabgewandte Seite hat, was Mark Twain den Satz formulieren ließ, «there is a dark side of the moon». Der Dichter meinte damit den Menschen, in dem das Böse so unsichtbar schlummere wie die Rückseite des Mondes. In Menschen steckt aber auch der unbändige Wille, das zu sehen, was man vor ihnen verbergen will, und als nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Raketenstarts gelungen waren, konnte es nicht mehr lange dauern, bis eine Sonde zum Mond geschickt wurde, um ihn zu umrunden. 1959 war es so weit, als die sowjetische Raumfähre Lunik 3 die Rückseite fotografieren konnte. Es dauerte ein knappes weiteres Jahrzehnt, bis erste Menschen das ihnen bislang unzugängliche Terrain mit eigenen Augen anschauen konnten. Dies gelang 1968 im Rahmen des amerikanischen Apollo-Projektes, und zwar um die Weihnachtszeit herum. 2019 schaffte es dann China, eine erste Raumsonde auf der Rückseite landen zu lassen, was dem Weltraum ein internationales Gepräge gibt. Kurioserweise erweist sich die mit weniger Gebirgen und Rillen versehene «dark side of the moon» in Wahrheit als die hellere Hälfte des Mondes, was daran liegt, daß ihr Rückstrahlvermögen (Albedo) größer als das der Vorderseite ist. So kann man sich irren, wenn man nicht hinschaut.
     Die Frage, warum Menschen nicht den ganzen Mond und immer nur seine Vorderseite zu Gesicht bekommen, erklären Fachleute mit dem Hinweis auf die gebundene Rotation des Trabanten - ein häufig im Kosmos zu beobachtendes Phänomen. Es besagt, daß zwei Himmelskörper ihre enge Umkreisung durch geeignete Wechselwirkungen nach und nach aufeinander abstimmen. Im irdischen Fall bedeutet es konkret, daß sich die Drehzeit des Mondes durch die Kraft, die von den Gezeiten der Erde ausgeht, der Länge eines Monats angepaßt hat, der für eine Periode den Phasen 291/2 Tagen einräumt. Neben der Erde führen auch andere Planeten Monde mit sich, und zwar nicht nur einen, sondern oftmals eine ganze Menge. Für Jupiter konnten rund 80 gezählt werden, darunter vier große Monde, die Galileo Galilei bereits ausfindig machen und bestaunen konnte, ohne zu wissen, daß sie ebenfalls eine gebundene Rotation wie Erde und Mond vollziehen. Dieser Fall liegt auch bei einigen der Trabenten des Saturn vor, deren Zahl die von Jupiter sogar übertrifft.
     Der Philosoph Karl Popper trug in seinen wissenschaftstheoretischen Schriften gerne die Hypothese vor, daß auf der Rückseite des Mondes ein blaues Einhorn Tango tanzt. Popper wollte mit diesem Beispiel eine unwissenschaftliche Hypothese vorführen, die er so einstufen konnte, weil es keine Chance gab, sie zu überprüfen und dabei zu falsifizieren. Das galt bis 1959, als ein erstes Foto von der Rückseite verfügbar wurde. Seit 2019 scheint man darüber nachzudenken, nicht den Mond, sondern von seiner Rückseite aus das Weltall zu fotografieren. Man hofft, hier besonders empfindliche Messungen durchführen zu können, weil auf der Rückseite gar kein Einhorn tanzt und es auch kein irdisches Streulicht schafft, die Empfindlichkeit der Apparate einzuschränken. Allerdings wird es Mühe machen und Umwege brauchen, um von diesem abgelegenen Gebiet aus die Meßergebnisse zur Erde zu melden.
 
 
© Ernst Peter Fischer
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.