Ein gültige Parabel
Hansjörg Schneider trifft auch heute den Punkt
Der ewig neue alte Menschheitstraum: sich ein künstliches Wesen zur Gesellschaft zu erschaffen, das durch einen Zauber oder perfekte Technik menschlich wird, sei es Pygmalions Aphrodite, Spalanzanos/Coppolas Olimpia (Coppelia), Collodis Pinocchio, die Hubots in Lars Lindströms TV-Serie „Real Humans“, der Tom in Maria Schraders „Ich bin dein Mensch“, Pinocchia von Leroi/Gilbrat oder die „lebensechte Liebespuppe Mandy“ vom Sex-Versand Orion.
In Literaturen und Kulturgeschichten vielfältig abgehandelt gehört auch die Alpensage vom „Sennentuntschi“ in diese Kategorie, die Erzählung von einem im Suff aus Einsamkeit und Übermut von Alphirten während der isolierten, frauenlosen Sommermonate in den Bergen gebastelten Wesen. Sie erfüllen sich damit den Männertraum einer willfährigen künstlichen Gefährtin, die ihnen jederzeit für ihre erotischen Begierden und Phantasien zur Verfügung steht. Hansjörg Schneider (*1938) formte dieses Motiv zu einem erotischen Dialektstück, dessen Uraufführung 1972 in Zürich zum Skandal wurde, wenngleich von Thomas Hürlimann hoch gelobt. Der Diogenes Verlag legt es in einer deutschen und der ursprünglichen Dialektfassung nebst zwei autobiographische gefärbten Erzählungen Schneiders einem Bericht von Thomas Hürlimann und einem Nachwort von Ulrich Weber vor.
Der Senn Benedikt, der Zusenn Fridolin und der Bub Mani verbringen den Sommer mit den Rindern auf der Alm, fabrizieren Käse und sehnen sich nach dem Leben im Tal. Der Senn läßt unübersehbar dem Buben gegenüber homosexuelle Tendenzen erkennen, während Zusenn Fridolin von Tanz und den Weibern im Tal schwadroniert. Im Suff basteln sie aus einer Weinflasche, Mistgabeln, Stroh und Käse das „Sennentuntschi“, das am nächsten Morgen in Gestalt eines schönen Mädchens zu realem Leben aus Fleisch und Blut erwacht ist. Sie nennen es Maria, die fortan mit den drei Kerlen säuft, unersättliche sexuelle Gier entwickelt und von allen dreien brutal benutzt wird.
Als der Sommer sich neigt und der Almabtrieb ansteht, müssen sich die drei von ihrem Geschöpf trennen, ohne zu wissen, was sie mit dem Sennentuntschi anfangen sollen – mitnehmen können sie es nicht, also umbringen oder einfach zurücklassen? Als Fridolin ein letztes Mal Marias drängende Aufforderung zum Ficken annimmt, trifft ihn mit ganzer grausamer Wucht die tödliche Strafe für die männliche/menschliche Hybris.
Hansjörg Schneider ist mit dem umstrittenen Stück in äußerst deftiger Sprache eine Parabel gelungen, die mit ihren Mitteln den hochmütigen Traum des Menschen trifft, Leben zu erschaffen und zu steuern. Nach 53 Jahren angesichts von Klon-Versuchen, KI, ChatGPT und DeepSeek heute aktueller denn je.
Hansjörg Schneider – „Sennentuntschi“
und andere frühe Texte
Mit einem Bericht von Thomas Hürlimann und einem Nachwort von Ulrich Weber
© 2024 Diogenes Verlag, 208 Seiten, Ganzleinen, Schutzumschlag – ISBN978-3-257-07311-9
26,- €
Weitere Informationen: www.diogenes.ch
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