Es sind die kleinen Dinge

Barbara Städtler-Mach – „Eine Polin für Herrn Kögel“

von Michael Zeller

Es sind die kleinen Dinge
 
Bruchstellen und Selbstverständlichkeiten
 
Der Roman „Eine Polin für Herrn Kögel” von Barbara Städtler-Mach gehört zu den wichtigsten Büchern, die ich in den letzten Monaten gelesen habe. Sein Thema ist ernst und bedeutsam: die Pflege älterer deutscher Menschen durch osteuropäisches Personal. Man könnte vorschnell meinen, so ein zäher Stoff garantiere wohl kein allzu hohes Lesevergnügen. Aber weit gefehlt! Wie es die Autorin hinbekommt, diese Problematik in Erzählung aufzulösen - das verdient großen Respekt. Das Buch ist ein ungemein dicht geknüpfter Erzählteppich aus lauter alltäglichen Ereignissen. Doch sie sind so beschrieben, ebenso kenntnisreich wie einfühlsam, daß die beiden Hauptfiguren, „die Polin” und der deutsche „Herr Kögel”, rasch ihr Lesepublikum gewonnen haben.
Das macht die Lektüre durchaus spannend, obwohl die Handlung des Romans kaum weniger aufregend sein könnte. Teresa, Anfang Vierzig, aus einem Dorf in der Nähe von Szczezin, betreut einen 84 Jahre alten Witwer, der in seinem Haus in der Nähe von Berlin lebt. Seine wachsende Vergeßlichkeit hat den beiden Kindern Sorgen bereitet. Deshalb haben sie „die Polin” zu seiner Betreuung engagiert.
 
Über genau die zwölf Wochen einer Betreuungsphase begleiten wir die beiden in ihrem Zusammenleben und bekommen hautnah mit, welche Probleme sich daraus ergeben: sprachlich, emotional, gesellschaftlich. Immer wieder empfindet Teresa in sich diesen seltsamen Zwiespalt: „Sie ist mit Herrn Kögel zusammengespannt, sie leben in gewisser Weise ein  gemeinsames Leben, in dem sie sich auf ihn einstellt und er ihre Gegenwart und Hilfe dankbar annimmt. ‘Ich wohne mit dem alten Mann zusammen’, sagt sie sich oft. ‘Ich habe freie Tage und kann auch weggehen. Aber ich fühle mich nicht frei. Ich bin immer angebunden, und meine eigene Familie  in Polen macht mir Vorwürfe. Ich stehe zwischen allen und spüre manchmal gar nicht, was ich selber will.”
Der eigene Vater, so alt wie Herr Kögel, lebt krank und allein in seinem nordpolnischen Dorf und bräuchte selbst Betreuung. Da reicht es für Teresas Gewissen nicht, ihm monatlich Geld zu überweisen. Doch das ist nur ein Teil ihres Problems. Mit reichlichem Hintergrundwissen versteht es die Autorin Barbara Städtler-Mach, die kulturellen Unterschiede zwischen deutscher und polnischer Familienpraxis auszubreiten, die Mißverständnisse, die daraus und aus schierer Unkenntnis erwachsen. Sie gibt Einblick in deutsche wie polnische Selbstverständlichkeiten, die die Leserschaft dieses Buches immer wieder überraschen. Es sind gerade die kleinen Dinge, die trennen und ins Stolpern bringen. Diese empfindlichen Bruchstellen werden ja bereits mit dem Titel des Romans deutlich vor Augen gestellt.
 
Teresa erfüllt ihre Pflicht. Sie tut alles, daß es Herrn Kögel gut gehe. Dafür wird sie bezahlt. Doch wo bleibt sie selbst dabei? „Während ihrer Zeit in Deutschland hat Teresa die Kirche stark vernachlässigt, die Sonntagsmesse hier noch nie besucht. Weihnachten ohne Christmette, die Feier mit einem großen Christbaum und den vertrauten Liedern in der dunklen Kirche, das geht wirklich nicht.”    
Und es ist dann auch just dieses emotionale Familienfest Weihnachten, das die Spannungen zwischen Herrn Kögel und „der Polin”, die bei allem guten Willen auf beiden Seiten untergründig wirken, zu einem überraschenden Ende des Verhältnisses führen. Wie das geschieht, soll hier natürlich nicht verraten sein. 
Auf jeder Seite dieses Romans spürt man, daß die Autorin ihren Stoff bis ins Kleinste beherrscht. Sie muß nichts erfinden. Denn als mittlerweile emeritierte Professorin an der Evangelischen Hochschule Nürnberg hat sie jahrelang auf dem Gebiet der Pflege und Versorgung älterer Menschen theoretisch gearbeitet.  2020 brachte sie mit einer Co-Autorin das Buch „Grauer Markt Pflege” heraus, das von der „24-Stunden-Unterstützung durch osteuropäische Betreuungskräfte” handelt, wie es im Untertitel heißt.
Wie Barbara Städtler-Mach es aber jetzt geschafft hat, am Ende ihrer Forschungstätigkeit darüber mit  „Eine Polin für Herrn Kögel” einen derart spannenden und lesenswerten Roman zu schreiben – das ist aller Ehren wert.
 
Barbara Städtler-Mach – „Eine Polin für Herrn Kögel“
Roman
© 2024 Königshausen & Neumann, 238 Seiten, kartoniert - ISBN: 978-3-8260-8888-9
19,80 €