Ein Exkurs zum Schmerz
Über Schmerz läßt sich wissenschaftlich nüchtern reden - etwa indem von Schmerzrezeptoren gesprochen wird, die Nervenbahnen aktivieren, von denen man umgekehrt weiß, daß sie durch Opiate blockiert werden können. Man kann auch fragen, wie es Placebos gelingt, Schmerz zu lindern, und erfahren, daß an dieser Wirkung körpereigene Opiate beteiligt sind, die Endorphine genannt werden (und tatsächlich nachweisbare Änderungen in der Aktivität des Gehirns nach sich ziehen). Aber wer länger über den Schmerz nachdenkt, wird irgendwann merken, daß man nicht bei dem biologischen Faktum stehen bleiben kann, sondern immer in Betracht ziehen muß, daß die Schmerzerfahrung Menschen angeregt hat, ihr Leben zu deuten und einen Sinn zu suchen. Schmerz ist kein rein physiologisches Ereignis, sondern gleichzeitig emotional, kognitiv und sozial wirksam, etwa auch in Gestalt von Kopfschmerzen und Migräne, die beide zu umfangreichen Arbeitsausfällen mit den dazugehörenden Beeinträchtigungen führen.
Im 19. Jahrhundert - nachdem die Entdeckung des Äthers gelungen war, mit dem Patienten vor einem operativen Eingriff in einen Tiefschlaf versetzt werden konnten - glaubten einige Ärzte, den „Tod des Schmerzes“ verkündigen zu können. Keine Frage, dieser Fortschritt und das anschließende Aufkommen der Anästhesie waren und sind segensreiche Hervorbringungen der Zivilisation. Aber daraus folgt nicht, daß Schmerz etwas ist, das durch Nervenzellen und ihre Aktivierung allein zu erfassen ist und kaum mehr als das Signal des Körpers darstellt, daß irgendwo mit ihm etwas nicht in Ordnung ist. Unsere Einstellung zum Schmerz hat sich stark gewandelt, wie sich schon dadurch zeigt, daß der Schmerz selbständig Krankheitswert erlangt hat. Schmerz gilt als Krankheit und nicht mehr als ihre Botschaft. Die Krankheit dreht sich um den Schmerz und nicht mehr der Schmerz um die Krankheit.
Traditionell werden Schmerzen biochemisch erklärt - etwa durch die Übertragung von Nervenimpulsen, die etwa an einer Wunde beginnen und von da aus zum Gehirn laufen. In diesem Denkmuster versucht die Medizin, dem Schmerz durch das Blockieren der Nervenbahnen Einhalt zu gebieten, die von der Peripherie ins Zentrum laufen. Zwar klappt dies zum Glück bei vielen Patienten, doch es gibt genügend Beispiele - etwa bei dem Gesichtsschmerz, der als Trigeminusneuralgie bekannt ist -, bei denen weder neurochirurgische Eingriffe noch biochemische Gegenmittel eine Wirkung zeigen. Zumindest solche Schmerzen entstehen nicht irgendwo am Rand des Körpers, sondern in seinem Zentrum. Man kann den Gesichtsschmerz nicht auf seinem Weg in den Kopf stoppen, weil er von Anfang an hier ist. Dieser Schmerz findet nicht nur im Kopf statt, er fängt dort an. Mit dieser Beobachtung muß man dem Schmerz eine andere Deutung als die eines Warnsignals geben und anfangen, sich Gedanken über eine Culture of Pain machen, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler David B. Morris in einem Buch getan hat, das auf Deutsch Geschichte des Schmerzes heißt.“ Hier weist er auf das Problem hin, daß Menschen nur wenige Ausdrücke kennen, um über den undefinierbaren Begriff „Schmerz“ genauer reden zu können. Das bereitet vor allem Betroffenen zusätzliche Qualen, da sie ihren Zustand als ein „Schmerzgefängnis“ erleben, in dem sie allein bleiben.
Wer über Schmerz klagt, sollte auch positive Aspekte er wähnen, etwa die Tatsache, daß Schmerz als „Medium der Leistung“ wirkt und neben sportlichen Rekordjagden auch kreative künstlerische Hervorbringungen fördert. In den Worten von Morris: „Wir können als Kultur keineswegs erfolgreich sein, wenn wir Schmerzen ignorieren oder verdrängen, als könnten wir sie mit einem Berg Pillen zum Schweigen bringen. Wir sind mehr als Neuronenbündel. Wir müssen beginnen, die Bedeutung von Schmerz zu entdecken, um menschliches Leiden nicht auf die Stufe eines lediglich physischen Problems zu reduzieren, für das es immer eine medizinische Lösung gibt.“
© Ernst Peter Fischer
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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