Eine Frage der Investition
Zurück zur Pubertät: Um zu verstehen, wie sich beim Erwachsenwerden unterschiedliche männliche und weibliche Dispositionen herausbilden konnten, gilt es, die biologische Evolution genauer zu betrachten und nach ihren Spuren zu suchen. Beide Geschlechter wollen sich optimal fortpflanzen, und sie erreichen ihr Ziel durch unterschiedliches Vorgehen. Der entscheidende Schritt erfolgte vor etwa 400 Millionen Jahren, als Tiere dazu übergingen, an Land zu leben. Fische praktizieren bis heute äußere Befruchtung, das heißt, Männchen und Weibchen geben ihre Keimsubstanz einfach ins Wasser und überlassen sie ihrem Schicksal. Bei landlebenden Tieren ist hingegen eine innere Befruchtung erforderlich geworden. Dies bedeutet, daß einer der beiden Organismen das keimende Leben aufnehmen und austragen muß. Diese Funktion fiel den Weibchen zu, weil sie die größeren und unbeweglicheren Eizellen produzierten.
Daraus entwickelte sich eine umfassende Asymmetrie, die Evolutionsbiologen durch den Begriff der «Parentalen Investition» verstehen wollen. Damit meinen sie den Aufwand an Zeit, Energie und Risiko, den ein Elternteil für jedes Kind auf Kosten weiterer potentieller Nachkommen investieren muß. Dieser Aufwand ist für Männchen erheblich niedriger als für Weibchen. Während Mütter nach der Paarung erst einmal durch das Austragen der Jungen blockiert sind, können Väter weitere Weibchen befruchten. Besonders bei Säugetieren kann das weibliche Geschlecht erheblich weniger Nachkommen bekommen als das männliche. Menschliche Mütter können allerhöchstens zwanzig Kinder gebären, während von manchen Männern berichtet wird, daß sie mehr als hundert Söhne und Töchter gezeugt haben, und das wäre noch nicht einmal die biologische Obergrenze.
Insgesamt lassen sich zwei gegenläufige Fortpflanzungsstrategien unterscheiden - eine quantitative, nach dem Prinzip «die Masse macht's», und eine qualitative, die sich mit wenigen Nachkommen begnügen muß, jedem oder jeder Einzelnen davon aber eine gute Startbasis zu verschaffen versucht. Weibchen ist die quantitative Strategie verwehrt, was einen stärkeren Selektionsdruck auf die Entwicklung und den Ausbau von Qualitäten bewirkt. Für die Männchen ist es am günstigsten, nach der Befruchtung unverzüglich nach der nächsten empfängnisbereiten Partnerin zu suchen. Dabei stoßen sie allerdings auf Grenzen. Denn sie können ihr Fortpflanzungspotential nicht aus leben, da paarungsbereite Partnerinnen nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen. Auf eine Partnerin, die nicht gerade trächtig oder mit der Brutpflege befaßt ist, kommt im Tierreich immer eine erhebliche Anzahl männlicher Bewerber. Und damit entsteht für das männliche Geschlecht die Notwendigkeit, mit Rivalen um paarungsbereite Partnerinnen zu konkurrieren. Dabei hat das weibliche Geschlecht die Wahl. So wird eine sexuelle Selektion möglich, die den Besten bevorzugt, wodurch ein zusätzlicher Leistungsdruck auf die männliche Höchstform ausgeübt wird.
Wegen dieser Schieflage der parentalen Investition ergeben sich unterschiedliche Lebensumstände. Im Laufe der Evolution hat dies dazu geführt, daß die Geschlechter verschieden ausgestattet worden sind. Bei Männchen begünstigt der permanente Rivalitätsdruck körperliche Kraft und Ausdauer; es gilt, für den Wettbewerb bereit zu sein und das Risiko des Kampfes einzugehen. Der Rivale wird dabei oftmals durch Drohen und Imponier gehabe eingeschüchtert, um es gar nicht erst zum Ernstfall kommen zu lassen. Männchen sind vielfach auf Schau hin angelegt, etwa in Form prächtiger Mähnen und Geweihe, und sie trumpfen gern angeberisch auf. Es fällt nicht schwer, die Folgen davon in der Männerwelt zu finden, wo man einstmals Halbstarke mit gegelten Haaren durch die Straßen ziehen sah.
Nun bringen nicht alle Angebereien und Auseinandersetzungen den gewünschten Erfolg. Wer dazu neigt, sich durch Niederlagen entmutigen zu lassen, hat kaum eine Chance, seine Eigenschaften zu vererben. Dagegen werden diejenigen bevorzugt, ihr genetisches Material weiterzugeben, die über eine gewisse Dickfelligkeit verfügen und unverdrossen immer wieder neu versuchen, zum Zuge zu kommen. Toleranz gegenüber Mißerfolg ist somit ein weiteres Merkmal des männlichen Konkurrenzverhaltens, was konkret bei Menschen dazu führt, daß sich gescheiterte Männer stets erneut bewerben, wenn sie abgewiesen worden sind, während Frauen rasch resignieren, wenn sie scheitern.
Natürlich können diese Bemerkungen lediglich den Appetit wecken, weitere evolutionär ausgerichtete Erklärungen für die Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu finden. Sie werden schnell komplizierter, wenn man transsexuelle Menschen mit einbezieht, die das Gefühl haben, im falschen Körper zu leben, und oftmals den Wunsch verspüren, ihr Geschlecht zu wechseln. Die Ursachen der Transsexualität harren noch der wissenschaftlichen Aufklärung. In Biologenkreisen wird vielfach vermutet, daß der Fötus im Mutterleib durch «unpassende» Hormone beeinflußt wird, während daneben auch die Ansicht zu lesen ist, daß veränderte Hirnstrukturen oder psychodynamische Um stände eine große Rolle spielen könnten.
In traditionellen Lehrbuchdarstellungen wird das Geschlecht durch besondere Chromosomen bestimmt, die in den Zellkernen schlummern und wegen ihres mikroskopischen Aussehens mit den Buchstaben X und Y bezeichnet werden. Frauen sind demnach Menschen, in deren Zellen zwei X-Chromosomen agieren, während Männer ein X- neben einem seltsam kleinen Y-Chromosom tragen. Man hoffte, auf dieser Erbanlage einen Faktor zu finden, der das Geschlecht bestimmt, aber so einfach laufen die Vorgänge in der Natur nicht ab. Bei dieser Festlegung spielen nämlich auch die Temperatur, der Lichteinfall, parasitische Infektionen und sogar soziale Umstände eine Rolle. Es bedeutet, daß Sex ziemlich kompliziert sein kann, auch wenn das Wort einfach klingt.
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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