Der Übersetzer ist tot
Vor den anderen sterben die Freunde. Nun ist auch Rainer G. Schmidt verstorben, einer der bedeutendsten literarischen Übersetzer des Landes. Zudem mein Nachbar und ein guter Freund.
Vor wenigen Wochen starb mein ältester Freund, Schulkamerad aus Dortmund, Gerd Herrmann. Mit ihm, da war ich neunzehn, bin ich zum ersten Mal in Paris gewesen, das wenige Jahre später zum Lebensort meiner Jugend werden sollte. Er ist Ingenieur geworden, immer in Dortmund geblieben bis zu seinem Tod, hat im Gegensatz zu mir ein bürgerliches Leben geführt, Frau, Kinder, Enkel, dennoch habe wir uns stets gut verstanden. Ich könnte die Freunde alle aufzählen, Beppo, Dietrich, Michael, Angelika, Sylvie, Mireille, die zu früh gestorben sind.
Rainer G. Schmidt hat das Gegenteil eines gutbürgerlichen Lebens geführt. Geboren ist er 1950 in einem saarländischen Dorf, der Vater war Meteorologe, wurde Poet und Übersetzer anderer Poeten wie von Rimbaud und vieler Schriftsteller aus dem Englischen und Französischen, lebte aber als ein städtischer Eremit in Berlin, allein, und ist am 9. April 2025 allein verstorben.
Vor einem Jahr hat der schon vielfach Preisgekrönte noch den Johann-Heinrich-Voß-Preis der Akademie für Sprache und Dichtung erhalten, für seine Übertragungen aus dem Englischen und dem Französischen, deren Liste lang ist, wie bei Wikipedia nachzulesen ist.
Kein Leser taucht so tief in ein Buch ein, liest es so genau wie der Übersetzer. Und so erkennt er sowohl die Stärken als auch die Schwächen eines literarischen Werks. Ich weiß das gut, habe ich doch auch Romane von Patrick Modiano, Pascal Quignard und einige Theaterstücke übersetzt. Aber es soll hier nicht um mich gehen, sondern um einen begnadeten Übersetzer, um Rainer G. Schmidt, der zwar viele Auszeichnungen für seine Übersetzungen erhalten halt, dennoch das Los aller Übersetzer teilt, in der Öffentlichkeit kaum geschätzt zu werden, obwohl wir ohne sie ja kaum Werke der Weltliteratur kennen würden.
Ich selbst achte selten auf den Übersetzer, lese ich ein Buch, doch als ich vor dreizehn Jahren die Lektüre des wunderbaren Roman „Rand“ von André Pieyre de Mandiargues beendet hatte, blätterte ich nach vorn zurück, um mir den Namen des Übersetzers zu merken, las Rainer G. Schmidt und fand das Deutsch dem Französischen kongenial. Seitdem schaue ich immer mal wieder, was dieser Schmidt noch übersetzte. Und ich traf ihn ab und zu im legendären Gasthaus „Lentz“ oder im Literarischen Colloquium am Wannsee, freundete mich mit ihm an.
Er schlurfte in seiner einzigartigen Art zu flanieren durch den äußersten Westen Berlins, wo er lange am Nikolassee gehaust hat und die dortige Rehwiese durchstreifte. Er ist aber kein zartes Reh auch kein Schlappengraf wie jener legendäre Flaneur von Baden-Baden. Er wurde mir zu einem unverzichtbaren Freund, nicht nur weil ich mit ihm wie mit niemand anderem über Dichtung sprechen konnte.
Freitags briet er sich stets einen Fisch, den er auf dem Markt im Berliner Westend erwarb, mal eine Maräne, mal eine Brasse, kannte sich halt nicht nur in der Sprache der Engländer und Franzosen aus, sondern auch in der Welt der Fische.
Angefangen zu übersetzen hat er, der auch selbst Lyrik verfasst hat, wenn man Wikipedia mal glauben kann, um 1970, da war Schmidt gerade einmal zwanzig Jahre jung. Gleich das erste Vorhaben war ein gewagtes, eine Herausforderung, denn er übersetzte zusammen mit Hans Therre Prosa und Lyrik von Arthur Rimbaud. Und da stellte sich schon die Frage der Fragen eines jeden Übersetzers: Überträgt man einen Satz, indem man eng am originalen Wortlaut bleibt oder erlaubt man sich die Freiheiten einer Nachdichtung? In der dann die Phantasie bisweilen über das Original obsiegt. Was leicht zu einem Lost in Translation führen kann.
Schmidts Übersetzung Rimbauds erregte Aufsehen, Bewunderung und radikale Ablehnung, die FAZ sah Dilettanten am Werk, für andere war sie genial, und sie begründete seinen Ruf. Dabei war sie auch eine spätpubertäre Provokation. Von so manchem Rimbaudgedicht blieb vom Wort des Dichters nichts übrig, Schmidt machte sich einen eigenen Vers auf die des anderen. Über seinen damaligen Übermut konnte sich Schmidt bis kurz vor seinem Tod noch köstlich amüsieren. Bisweilen neigte er auch in der dritten Pubertät der Siebzigjährigen - wie Goethe das nannte - zu Extravaganzen, literarisch wenn er von dem Anarchisten Elysée Réclus dessen Schrift: „Staat, Fortschritt, Anarchie“ übertrug oder wenn er ganz unliterarisch im Bus auf dem Weg nach Hause vor den staundenden Augen der Fahrgäste wie ein behender Affe an den Haltestangen rumturnte und dabei verschmitzt grinste.
Am Mittag seines 75. Geburtstags am 6. April 2025 kam er noch zu mir, beschwerte sich über die Telekom, denn sein Telefon funktioniere nicht, keiner gratuliere ihm, doch es war nicht die Telekom Ursache, es war die wachsende Einsamkeit alter Männer, die sich als Eremiten im Leben verkrochen hatten. Übersetzt hat er bis zu seinem letzen Tag. Und was? Die Tagebücher des Henry David Thoreau. Der Dichter von „Walden“ war ein Double seines Übersetzers, der sich in den nordamerikanischen Wäldern verkrochen hatte wie Rainer Schmidt in den Steppen einer Großstadt.
Sechs Bände der Tagebücher Thoreaus sind im Verlag Matthes & Seitz in der Übersetzung von Rainer Schmidt erschienen. Die noch fehlenden sechs wer soll sie nun übersetzen, wenn der Übersetzer von einem Tag auf den anderen einfach nicht mehr da ist?!
Jörg Aufenanger
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