„Cara Gabriella“
Post an eine Bezaubernde
Vor einem knappen Jahr konnte ich an dieser Stelle einen schmalen Band vorstellen, Kiev Stingls „Mein Collier um deinen Hals“, ein Kompendium feuilletonistischer Gedankensplitter, ein lesenswertes kleines Gedanken-Kompendium des Song-Poeten. Es war sein letztes Buch zu Lebzeiten, denn noch vor dem Erscheinen ist Kiev Stingl am 20. Februar 2024 in Berlin gestorben.
Nun hat Alexandra Beilharz, die Herausgeberin von „Mein Collier um deinen Hals“, Briefe Stingls aus dem Besitz seiner Jugendliebe der Jahre 1963–66 zu einem berührenden kleinen Bändchen zusammengestellt: „Briefe an Gabriella“. Die Adressatin Gabriele Gelinek und Kiev (damals noch Gerd), beide Internatsschüler, hatten sich auf einer Zugfahrt kennengelernt und sich über eine dadurch entstandene Brieffreundschaft (aber vielleicht auch auf den ersten Blick) ineinander verliebt. Fotos des gut aussehenden 19jährigen Jungen und der 17jährigen Schönheit lassen jedoch vermuten, daß es der erste Blick war, denn die bezaubernde Gabriele, die er dann Gabriella nannte („verzeih mir die poetisierung deines mädchenhaften namens“), entsprach zu 100 % dem Schönheitsideal der Jugendlichen jener Zeit. Welcher Junge hätte sich nicht in sie verliebt? Mir wäre es wie Gerd ergangen.
Die Briefe und Karten Gerds vom Herbst 63 bis zum Mai 66 aus verschiedenen Ecken Europas lassen seine Neigung zur lyrischen Umsetzung seiner noch lange nicht ausgereiften Gedanken- und Ideenwelt erkennen, gleichzeitig seinen Wunsch, der fernen Verehrten mit philosophischen Exkursen und fremdsprachigen Einsprengseln zu imponieren, wenn auch ohne die Bereitschaft, offen von Liebe zu sprechen. Dafür spricht auch, daß er nur sporadisch und in größeren Zeitabständen geschrieben hat. Es wäre wunderbar, den gesamten Schriftwechsel lesen zu können, doch sind Gabriellas aus der strengen Klosterschule geschmuggelten Nachrichten nicht erhalten, abgesehen von einem Briefentwurf aus dem Januar 1964, der ihn aber nie erreichte. Er ist jedoch ein wertvolles Dokument des bigotten Klosterinternats-Lebens Anfang der 60er und der verklemmten asexuellen Gedankenwelt in der Mädchen damals, auch in anderen Schulen, erzogen wurden.
Gabriele Gelinek hat dem kleinen Briefband ein sehr sympathisches persönliches Nachwort mit auf den Weg gegeben, das in ihre Situation hinter Klostermauern und die heimlichen Wege eintauchen läßt, auf denen sie seine Post erhielt und ihm, kassibergleich, ihre Briefe zukommen lassen konnte. Na, haben Sie jetzt Lust, den Karton mit Ihren alten (Liebes-) Briefen vom Dachboden zu holen und noch einmal in ihre Jugendverliebtheit einzutauchen?
Kiev Stingl – „Briefe an Gabriella“
© 2025 Flur Verlag, 71 Seiten, 15,6 x 12,7 cm, Klappenbroschur – ISBN 9783989652026
Herausgegeben von Alexandra Beilharz - Mit bisher unveröffentlichten Fotos des Autors und einem Nachwort von Gabriele Gelinek
14,- €
Weitere Informationen: www.flurverlag.de
|