Wünsche für den Ernst des Lebens

von Hanns Dieter Hüsch

© Paul Maaßen
Wünsche für den Ernst des Lebens

Wenn ein sogenannter junger Mensch
Sein Abitur macht
Aufs Abitur zugeht
Im Abitur steht
Sein Abitur gemacht hat
Bestanden hat
Die Reifeprüfung
Unglückliches Wort
Abgelegt hat
Dann sitzt doch meist die gesamte Menschheit
Um den jungen Menschen herum
Und redet und faselt
Und spricht und mahnt
Und erklärt und begründet
Und sagt klipp und klar
Daß jetzt der Ernst des Lebens beginne
Und daß jetzt bald ein anderer Wind wehe
Und ein anderes Vögelchen pfeife
Und daß man die Beine jetzt nicht mehr so einfach
Unter Vaters Tisch legen könne
Und dazu noch die Hände in den Schoß
Nein
Jetzt ginge es in die Welt hinaus
Und die Welt sei nicht so astrein
Und es gäbe manchen Berg und manches Tal
Wo man hinüber hinunter und hindurch müßte
Aber da müßte der junge Mensch
Jetzt leider selbst mit fertig werden
Mit dem Ernst des Lebens
Dieses Wort fällt alle drei Minuten
Aber kein Mensch weiß genau
Was das eigentlich ist
Aber es wird fortwährend davon geredet
An allen Küchentischen
In allen Kinderzimmern
Aber keiner will es den Kindern so recht erklären
Ja vielleicht hätte man da schon früher
Ein Fach
Ein Schulfach erfinden müssen
Sowas wie Lebenskunde
Montags am Wochenanfang zum Beispiel
Eine Doppelstunde Lebenskunde
Mit den Kapiteln
Toleranz Anpassungsfähigkeit Soziabilität
Höflichkeit streitbare Kultur Geduld
Nicht Ruhe ist die erste Bürgerpflicht
Nicht Ruhe
Sondern Unruhe
Aber die mit Geduld
Ernst des Lebens
Herrgottnochmal
Ich habe mein Abitur im Februar 1943 gemacht
Mit Ach und Krach bestanden
Mitten im Krieg
Nichts vom Leben gewußt
Hatte auch nicht das Gefühl ein reifer Mensch zu sein
Im Gegenteil
Ein Träumer mit Abitur war ich
Aber ein Glück
Meine niederrheinischen Vorfahren
Hatten mir eine gute Mischung
Aus Ökonomie und Fantasie mitgegeben
Und meine Moerser Naivität:
Der liebe Gott läßt mich nicht im Stich
Wenn ich ihn nicht im Stich lasse
Damit habe ich das Leben leben können
Aber das Abitur
War nur eine kleine Ouvertüre
Obwohl man schon dachte
Die ganze Welt in der Tasche zu haben
Dennoch soll man sich über das bestandene Abitur
Von jungem Herzen freuen
Feiern soll man auch
Fröhlich soll man sein
Musik ist angesagt
Und die Eltern sollen sich ein Tränchen verdrücken
Sorgen sollen sie sich machen
Denn sich Sorgen um jemanden machen
Heißt jemanden lieben
Und den Lehrern den Damen und Herrn
Studienräten und Rätinnen
Direktoren und Direktorinnen
Möchte ich zurufen:
Laßt keinen durchfallen
Denen blutet ja sonst das Herz
Macht die Kinder nicht kopfscheu
Legt noch einmal den Arm um sie
Humanismus ist eine feine Sache
Menschenliebe auch
Aber der Mensch braucht viel Kraft und viel Glück
Und das mit der Reife
Das kommt erst mit den weißen Haaren
Manchmal kommt sie überhaupt nicht
Und manchmal muß man tapfer sein
Eine gute Zukunft für alle
Die jetzt damit beginnen!

Hanns Dieter Hüsch
 
© Chris Rasche-Hüsch
Veröffentlichung aus "Zugabe" in den Musenblättern mit freundlicher Genehmigung
Das Foto stellte dankenswerterweise Paul Maaßen zur Verfügung.