Unbeweisbares und Unentscheidbares
Warum kann die Wissenschaft die Fackel der Vernunft nicht einfach anzünden und durch die Welt tragen, um mit ihrem Licht alle Ecken auszuleuchten und die Dunkelheit zu vertreiben, was bereits Konfuzius vorgeschlagen hat und was die Philosophen der Aufklärung umfassend unternehmen wollten? Sie meinten, man müsse bloß vernünftige Antworten auf vernünftige Fragen geben, und schon wüßte man Bescheid. Doch so einfach geht es nicht. Als Einstein zu Beginn des 20. Jahrhunderts über die vernünftige Frage «Was ist Licht?» nachgrübelte, konnte er sie nur unvernünftig oder mit Widersprüchen beantworten. Licht kann nämlich sowohl als Welle als auch als Teilchen in Erscheinung treten, was positiv gewendet bedeutet, daß Licht ein Geheimnis bleibt. Der gesunde Menschenverstand kommt hier an sein Ende, wobei man sich klarmachen sollte, daß ihm bereits verschlossen bleibt, wie Licht sich als elektromagnetische Welle bewegen soll. Wie soll denn ein elektrisches Feld ein magnetisches und umgekehrt ein magnetisches ein elektrisches zustande bringen? Wie kann das Hin-und-Her immer so weitergehen im Wechselspiel, und wie entstehen dabei die Richtung eines Lichtstrahls und seine Geschwindigkeit? Das Spiel der Felder läßt sich mit dem Kopf berechnen, aber kaum mit dem Herzen verstehen, um Heisenbergs Unterscheidung erneut aufzugreifen. Zudem wäre da noch die Frage, wie man sich einen Lichtstrahl als Strom aus masselosen Teilchen genau vorstellen kann. Einstein hat über dieses Thema fünfzig Jahre lang nachgegrübelt, ohne eine zufriedenstellende Deutung gefunden zu haben. Vielleicht sollten Menschen vorsichtiger mit ihren Vorschlägen werden, wenn sie Fragen wie den folgenden gegenüberstehen: Was ist ein Elektron? Was ist ein Atom? Was ein Feld? Was ist Energie? Vielleicht gibt es darauf gar keine Antworten, sondern nur das Angebot zum Dialog und Gedankenaustausch, das sich anzunehmen sicher lohnt, auch wenn Sozialwissenschaftler an dieser Stelle gerne abwinken, weil sie in ihrer Disziplin nichts Berechenbares finden, über das sich zu streiten lohnt.
Es kommt nicht nur in der Physik, sondern selbst in der Mathematik vor, daß manche Fragen nicht so beantwortet werden können, wie es sich die Aufklärer vorgestellt und erwartet haben. Zu den bleibenden Schwierigkeiten gehört die Frage, ob sich Formen von Unendlichkeit unterscheiden lassen, zum Beispiel die oben angesprochenen Unendlichkeiten der natürlichen Zahlen und der Primzahlen. Um hier Klarheit zu gewinnen, haben Mathematiker das Konzept der Menge eingeführt, bei der sie jeweils angeben, wie viele Elemente solche Gedankenkonstruktionen enthalten. Hier geht es um Zahlenmengen, und dann sagt man mit anschaulichen und unmittelbar einleuchtenden Worten, daß die Menge der natürlichen Zahlen «abzählbar unendlich» ist. Man kann jedes Element zählen, von 1 über 2 und 3 und so weiter bis ∞. Wenn man jetzt fragt, wie viele Zahlen es überhaupt gibt - also neben den natürlichen noch die rationalen und die irrationalen -, sollte eine größere Menge zustande kommen. Die Mathematiker sprechen mit einem anschaulichen Wort von einer «überabzählbaren» Menge, was hier angeführt wird, weil der Mathematiker Georg Cantor im 19. Jahrhundert wissen wollte, ob es noch dazwischenliegende Mengen mit ebenfalls unendlich vielen Zahlen gibt. Cantor meinte «Ja!», und er vermutete sogar, daß es eine ganze Reihe von Unendlichkeiten gibt, die möglicherweise sogar ein Kontinuum bilden.
Selbst wenn der Common Sense bis hierher noch folgen konnte, wird der nächste Schritt für ihn eine ungewöhnliche Überraschung sein. Wie sich im 20. Jahrhundert nämlich herausstellte, kann man die Frage, ob es zwischen der abzählbaren und der überabzählbaren Unendlichkeit noch weitere Formen des Infiniten gibt, nicht klären. Sie bleibt unentscheidbar. Man kann weder beweisen, daß es Zwischengrößen gibt, noch läßt sich zeigen, daß es sie nicht gibt. Wer professionell Mathematik treibt, kann oder muß sich sogar für die eine oder andere Sicht der Dinge entscheiden. Grundsätzlich ist die Unbeweisbarkeit seit den 1930er Jahren bekannt, als der Logiker Kurt Gödel allgemein zeigen konnte, daß es wahre Sätze gibt, die sich nicht beweisen lassen. Nicht zu glauben! Genauer vermochte Gödel zu zeigen, daß es in logisch aufgebauten Systemen unbeweisbare Sätze gibt, die nicht aus den vorgegebenen Axiomen ableitbar sind, auch wenn sie allem Anschein nach zutreffen - jedenfalls nach Ansicht des gesunden Menschenverstandes.
Als Gödel seinen berühmten Satz präsentierte, widerlegte er zum einen das Diktum des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der in seinem Tractatus logico-philosophicus keck geschrieben hatte, es könne in der Logik keine Überraschungen geben - hat der eine Ahnung! Und zum zweiten zerstörte Gödel die Hoffnung des Mathematikers David Hilbert, der im Jahre 1900 die letzten noch ungelösten Probleme seiner Disziplin aufgeführt und prognostiziert hat, daß sie im kommenden Jahrhundert gelöst sein würden. Nicht unbedingt und nicht alle, konnte Gödel ihm erwidern, was Hilbert verzweifeln ließ. Ihn wurmte schon, daß sich eines der von ihm angesprochenen Jahrhundertprobleme dem beweisenden Zugriff zu seinen Lebzeiten entzog. Wie würde Hilbert erst staunen, wenn man ihm sagen könnte, daß seine Kollegen sich bis heute die Zähne daran ausbeißen. Es geht um eine Vermutung des Mathematikers Bernard Riemann, der sich 1859 Gedanken «Über die Anzahl der Primzahlen unterhalb einer gegebenen Größe» machte und dabei nach ihrer Verteilung auf dem Zahlenstrahl fragte. Riemann konstruierte zu diesem Zweck eine komplexe Funktion, die er Zeta nannte, und rechnete aus, an welchen Stellen sie den Wert null annimmt. Dabei fiel ihm auf, daß die von ihm erfaßbaren Nullstellen eine Linie bildeten. Die berühmte Riemann-Hypothese kam zustande, als er die Vermutung aussprach, daß alle Nullstellen der Zeta-Funktion auf dieser Linie liegen. Inzwischen hat man mit Hilfe von Computern viele Billionen von ihnen berechnet, und sie reihen sich tatsächlich alle brav auf der Linie ein. Aber auch viele Billionen sind nicht viel im Vergleich zur Unendlichkeit, und so wartet die Welt weiter auf einen Beweis, der dem- oder derjenigen, die oder der ihn erbringt, um eine Million Dollar reicher machen würde, was andeutet, wie wichtig den Mathematikern die Riemann-Hypothese ist. An ihrer Stimmigkeit hängen viele weitere Beweise, die auch im praktischen Leben mit all seinen Verschlüsselungen eine Rolle spielen.
Als Hilbert noch lebte, kam in Deutschland als eine Art Gesellschaftsspiel die Idee auf, Menschen zu fragen, wann sie wieder aufgetaut werden wollten, falls man sie nach ihrem Tod einfrieren könnte. Hilbert zögerte keine Sekunde, man solle ihn ins Leben zurückholen, «wenn die Riemann-Hypothese bewiesen ist», wobei seine Antwort vor allem zeigt, wie herausfordernd es für Mathematiker ist, die Verteilung der Primzahlen unter den natürlichen Zahlen zu verstehen. Wer fragt: «Wieso spielen Primzahlen solch eine große Rolle?», der wird zu hören bekommen, daß sie unersetzbar sind, ganz für sich allein stehen und in der Praxis zum Beispiel benutzt werden können, um Kreditkartennummern zu verschlüsseln. Außerdem steckt in ihnen die Herausforderung, von einer Primzahl ausgehend die nächste vorherzusagen. Wieso kommt nach 881 als nächste schon 883, aber nach 991 muß man erst bis 997 gehen, um eine weitere Primzahl zu treffen? Was steckt dahinter? Es besteht die Hoffnung, dies mit Riemanns Zeta-Funktion verstehen zu können, um allgemein dem Geheimnis der Zahlen auf die Spur zu kommen, an denen noch etwas anderes fasziniert: Auf der Linie, die die erwähnten Nullstellen von Riemanns Funktion bilden, sind die einzelnen Punkte nicht gleichmäßig verteilt. Ihre Positionen zeigen ein Muster, das erstaunlich gut mit den Verteilungen übereinstimmt, die Atome erkennen lassen, wenn sie Licht aussenden und man die dazugehörigen Frequenzen aufträgt. Man könnte meinen, es gibt einen Takt, der tief im Innersten der Welt getrommelt wird und bis zu den Primzahlen in den Köpfen der Menschen reicht, um auf diese Weise die beiden Welten zu verbinden, die der französische Philosoph René Descartes als «res extensa» und «res cogitans», also als Ausgedehntes und Ausgedachtes, getrennt hat. Vielleicht läßt sich aus der dualen Welt die eine formen, von der Menschen träumen, und die Riemann-Hypothese öffnet die Tür zu ihrer Vereinigung. Man kann nur staunen und das Geheimnis auf sich wirken lassen.
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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