Aktuelle Rätsel und Ratlosigkeit

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Aktuelle Rätsel und Ratlosigkeit
 
Aus den Höhen der Geschichte in die Niederungen des Alltags. Wer die Zeitung aufschlägt oder Nachrichten über andere Medien aufnimmt, kann sich vor offenen Fragen nicht retten. Im Herbst 2021 leidet die Welt unter der Corona-Pandemie, und so wundervoll die ungemein rasche Bereitstellung eines wirksamen und verträglichen Impfstoffes ist, so viele Fragen wirft seine Anwendung auf.
     Darunter findet sich auch die Frage, warum so viele Menschen der Wissenschaft mißtrauen und lieber Verschwörungstheoretikern glauben. Die Antwort darauf hat bereits 1970 (!) der Suhrkamp Verlag geliefert, als er eine (leider bald eingestellte) Reihe „suhrkamp wissen“ mit den Worten ankündigte: „Schon heute [1970] steht die Mehrheit der Menschen den Problemen der Naturwissenschaft verständnislos, ratlos gegenüber. Man spricht von einer Bildungskatastrophe.“ Das Trauerspiel besteht darin, daß sich daran nichts, gar nichts, überhaupt gar nichts geändert hat, wie aus einer Einladung der Abteilung für „Bildung und Wissenschaft“ der Friedrich-Ebert-Stiftung ersichtlich wird, in der es im Oktober 2021 heißt, daß „Wissenschaft für viele ein unbekanntes Terrain“ ist, und die meisten Menschen „wissen wenig darüber, wie sie funktioniert.“
     Wohlgemerkt: So etwas schreiben Menschen, die für Bildung zuständig sind, und sie tun dies ein halbes Jahrhundert, nachdem der Öffentlichkeit attestiert wurde, bei Themen der Wissenschaft verständnislos, ratlos und dann auch hilflos zu sein. Es ist schlimmer geworden, wie die öffentliche Debatte um die Pandemie und das Gestammel der Querdenker zeigen, was einen an die verzweifelte Frage denken läßt, die auf Friedrich Schiller (in Die Jungfrau von Orleans) zurückgeht und wissen will: „Warum kämpfen selbst Götter vergeblich mit der Dummheit?“ Warum siegt stets der Unsinn, obwohl so viele Menschen doch den Sinn des Lebens suchen?
     Die Bildungskatastrophe zeigt sich noch deutlicher, wenn es vom Körperinneren mit persönlicher Ratlosigkeit in die Außenwelt mit globaler Ahnungslosigkeit geht. Die überlebenswichtige Frage, wie man den Klimawandel aufhalten und was die Wissenschaft dazu beitragen kann, läßt sich ebenso wenig schlüssig beantworten wie die Frage, mit welchen Formen der Energie die Zukunft der Menschheit am besten zu bewältigen ist. Bei der derzeitigen Debatte zu diesem Thema übergeht man in der Öffentlichkeit gerne das ungelöste Problem der Energiespeicherung. Wenn man Solarstrom haben will, sollte es gelingen, die Kraft der Sonne am Tage für die Nacht zu speichern. Aber wie kann das vor sich gehen und umgesetzt werden? Wie kann man die Windkraft für windstille Perioden sammeln und einsatzbereit halten?
     Das Wesentliche von Energie besteht darin, sich dauernd zu wandeln, etwa von elektrischer Energie in chemische oder von organischer in kinetische Energie. Speicher müssen solche Umwandlungen ermöglichen, um die gewünschte Form zu bekommen, was aber stets Verluste mit sich bringt. Zum Glück ist Energie nicht nur ungeheuer wandlungsfähig, sondern bleibt bei allen Transformationen insgesamt konstant und erhalten, was den Ingenieuren und ihren Unternehmen zahlreiche Ansätze bietet. In diesen Kreisen arbeiten Menschen nicht nur an immer besseren Energiespeichern, sondern sie denken auch über Möglichkeiten nach, die Atomkraft zu nutzen und sogar von der Sonne zu lernen und einen Fusionsreaktor zu bauen. Im Jahr 1976 hat das amerikanische Energieministerium eine Studie vorgelegt, in der die Frage beantwortet wurde, ab wann die Menschheit ihre Energie durch Fusionen bekommen kann, wie sie im Inneren der Sonne ablaufen. Der Zeitpunkt, so meinten die Regierungsbeamten, hänge vor allem vom bereitgestellten Geld ab, und sie prognostizierten, daß bei einem Einsatz von knapp 10 Milliarden US-Dollar pro Jahr der erste Fusionsreaktor spätestens 1990 ans Netz gehen würde. Inzwischen hört man aus Forscherkreisen, daß es zu viele hartnäckige Probleme gebe, um die Fusion rasch in Gang zu setzen. Hinter jeder Hürde, die sie übersprungen hatten, tauchten neue Hindernisse auf. Man kann das auch das „Erhaltungsgesetz für Schwierigkeiten“ nennen.
     Leider wollen die Medien von solchen Schwierigkeiten nichts wissen, und so verkaufen sie Wissenschaft stets unterhaltsam und immer als etwas, das schlichte Klarheit schaffen kann. Im Herbst 2021 beschäftigte das Land die Frage, wie es zu der verheerenden Sturzflut im Ahrtal kommen konnte, bei der mehr als 100 Menschen ihr Leben verloren haben und zahlreiche Häuser zerstört wurden. Die Katastrophe ausgelöst hatte eine extreme Wetterlage, über deren Herkunft Meteorologen und Klimaforscher immer noch rätseln. Doch während sie damit beschäftigt sind, verkünden Fernsehmoderatoren - im ZDF -, sie wüßten Bescheid. Mit den üblichen flackernden (trotz aller Farbenpracht aber nichtssagenden) Bildern führen sie dem glotzenden Volk den Jetstream vor, der als sogenanntes Starkwindband in der untersten Schicht der Atmosphäre (der Troposphäre) schon länger die Aufmerksamkeit der Wissenschaft findet. In ihren Kreisen wird befürchtet, daß die wärmer werdende Luft aus der Arktis diesem Strom Kraft entzieht (wie auch immer das bewerkstelligt wird). Diese Abschwächung könnte dafür sorgen, daß auf der Erde Tiefdruckgebiete häufiger werden, die sich zu Unwettern auswachsen können, wie es im Ahrtal geschehen ist. Klimaforscher gehen der keineswegs trivialen Hypothese nach, daß ein schwächelnder atmosphärischer Höhenwind für das irdische Hochwasser gesorgt hat, wobei der Nachweis der Richtigkeit ihrer Überlegungen noch viel Arbeit erfordert, was die Medien einfach ignorieren. Sie verwandeln eine Vermutung in vermeintliches Wissen, und wer fragt, warum die Moderatoren nicht selbst an ihren vorgegaukelten Kenntnissen zweifeln und ihre zusammengeklaubten Fakten kaum auf die Reihe kriegen, muß die Antwort erdulden: „Weil sie zu dumm dazu sind!“ Dies zeigt sich auch an dem Dauergrinsen, mit dem sie in die Kamera schauen und ihre Verlegenheit überspielen, wie es - wie in diesem Buch erläutert - alle Menschen tun, die sich in die Enge getrieben fühlen.
     Warum wird der Jetstream in Kreisen der Forschung kontrovers diskutiert? Zum einen, weil die atmosphärische Dynamik komplex abläuft, und zum Zweiten, weil vernünftige Zweifel zum Kernelement jeder Fachdebatte gehören. Die Wissenschaft hat verstanden, warum höhere Konzentrationen von Treibhausgasen den Planeten aufheizen - weil die Atmosphäre zwar die kurzwellige Strahlung von der Sonne durchläßt, aber die von der Erde reflektierte langweilige Strahlung mit ihrer Wärme festhält (wobei man jetzt natürlich gerne Genaueres über die Wechselwirkung der Atmosphäre mit den Strahlen erfahren will und sich fragt, warum das Ganze so sein muß). Aber ihr Verständnis kann weniger gut vorhersagen, wie sich höhere Temperaturen auf Luft- und Meeresströmungen auswirken, die das Wetter in mittleren Breiten prägen. Warum unterschlagen die Reporter in den Medien diese Unsicherheiten? Hält man das Publikum für so dumm, wie es ist, oder sogar für dümmer? Möchte man die Familien vor den Apparaten in unmündige Konsumenten verwandeln, denen man dann die in grellen Werbespots präsentierten Artikel unterschieben oder durch banale Unterhaltungen Lebenszeit stehlen kann?
     Was den Klimawandel angeht, so vermitteln die Medien den Menschen auch ein unzureichendes Bild von den Mooren, die vielfach in Filmen oder Romanen mit Verbrechen und Leichen in Verbindung gebracht werden und vielen Leuten unheimlich vorkommen. Während sich die Politik mit dem Kohleausstieg als Rettung der Klimaziele beschäftigt und sich auf einen Stop der Abholzung des Regenwalds im fernen Amazonasdelta konzentriert, versucht die Wissenschaft zu erläutern, daß dann, wenn man mit dem Trockenlegen von Mooren vor der eigenen Haustüre aufhört und man stattdessen mit ihrer Befeuchtung oder einem Wiedervernässen beginnt, deutlich größere Chancen bestehen, das im Pariser Abkommen festgelegte 1,5-Grad-Ziel der Erwärmung zu erreichen, als wenn man weitermacht wie bisher.
     Übrigens: Warum hat man Moore bislang ausgetrocknet? Zum einen, weil Landwirte trockenen Boden besser mit Maschinen beackern können, und zum Zweiten, weil sie mit einfachen Rohrsystemen zum Ziel kommen und entwässerte Moore profitabel sind. Aus ihnen entweichen aber jede Menge klimaschädlicher Gase. Doch wie soll es zu einem Umdenken bei dem Umgang mit Mooren kommen, wenn niemand weiß, daß die Emissionen aus trockenen Mooren zum Treibhauseffekt so stark beitragen, wie es der gesamte CO2-Ausstoß der Industrieprozesse macht? Immerhin hat man seit 2012 die eher im Stillen stattfindende Moorwiedervernässung auf die internationale Agenda gesetzt.
 
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.