Ein wunderbar erzähltes Kindheitskapitel

Hanns-Josef Ortheil – „Schwebebahnen“

von Frank Becker
Schwebend - Berührend
 
Ein wunderbar erzähltes Kindheitskapitel
 
Hanns-Josef Ortheil hat als Sechsjähriger erfahren, was viele Kinder in der Zeit des deutschen Wirtschaftswunders erlebt haben, den Wechsel vom Heimatort in eine neue Umgebung, weil der Vater eine neue Arbeitsstelle bekommen hatte. Oder war es in Ortheils Fall so, daß der Vater, ein Eisenbahner, sich versetzen ließ, um dem stark introvertierten Jungen, einem  Einzelgänger mit autistischen Zügen, der über das absolute Gehör verfügt und mit sechs Jahren bereits Klavier spielen kann, dessen Schulbesuch in Köln im ersten Jahr abgebrochen werden mußte, einen neuen Start zu ermöglichen?
 
Es kommt jedenfalls zum Umzug in die neue Heimat Wuppertal. Sechs Jahre wird er dort einen wichtigen Teil seiner Kindheit verbringen – und wertvolle Freunde finden. Die hat er nötig auf dem fremden Terrain und sie bringen ihn auf seinem Weg ein gehöriges Stück weiter. Ein besonderer Glücksfall ist Mücke, die eigentlich Rosa heißt und im Haus gegenüber wohnt. Ihr öffnet sich der kleine Mann, wie Ortheil sich selbst zu Anfang seines autobiographischen Romans nennt, bald wird er Josef heißen, sehr schnell und es ist wie ein kleines Wunder. Mücke wird seine beste Freundin und ständige Begleiterin, sie ist klug, humorvoll und praktisch. Sie werden wie Geschwister, mit einem Hauch junger Liebe.
Dann gibt es noch Frau Fischer, die Rektorin seiner Volksschule, denn hier wird Josef nun zum zweiten Mal eingeschult, die sich als höchst umsichtig im Umgang und der schulischen Erziehung Josefs zeigt, den katholischen Kreuzherren-Pater de Kok, der sich Josefs musikalischer Seite annimmt und ebenso bedeutsam den Jugend-Sporttrainer Eberhard Höger, der Josefs Talent zum Langstreckenläufer erkennt. Warum fällt mit hier plötzlich Forrest Gump ein? – ach egal. Der Junge, der am liebsten Geschichten schreibt und Klavier spielt, bekommt im Tal der Wupper, besonders auch über der Wupper, über welche die herrliche  Schwebebahn fährt, Unterstützung, Inspiration und tatsächlich neuen Lebensmut. Und er lernt den Wald kennen, denn Wuppertal ist eine sehr grüne Stadt.
 
Doch auch die Wuppertaler Jahre sind gezählt. Wir begleiten Josef noch bis ins Gymnasium, erleben die Krankheit des Vaters und das Verstehen des Kalten Krieges, die Angst vor einem Atomkrieg und der erneute Wegzug. Ein elegantes Erzähl-Instrument sind die Einschübe von Briefen der stets besorgten Mutter an ihre Schwester.
 
Hanns-Josef Ortheil ist zu einem unermüdlichen Schreiber geworden, einem Autor, dessen Bücher unentwegt wie vom Fließband purzeln, der über Städte, Landschaften, Liebende, über Bücher, Essen und immer wieder Musik, Figuren der Geschichte, Schicksale und sehr viel über sein eigenes Leben zu erzählen weiß. Sein streng geregelter Arbeitstag als Autor, der schon sehr früh beginnt, endet um 12 Uhr mittags, dann ist Showdown und es gelten nur noch Ruhe, Entspannung und das Klavierspiel, das bis heute sein Elixier ist.
Das Schreiben tut er eloquent und unterhaltsam, ebenso wie es ihm gelingt, seine Literatur liebenswert ans Publikum zu bringen. So nämlich am vergangenen Dienstag, dem 9. September, als er mit großem Erfolg seinen jüngsten Roman „Schwebebahnen“ vor ausverkauftem Mendelssohn-Saal (360 Plätze) der Historischen Stadthalle Wuppertal in Begleitung des Literaturkritikers Denis Scheck als Interviewer vorstellte. Das Publikum ließ sich spürbar auf die Lesung ein und stürmte schließlich schier den Bücherstand.
 
„Schwebebahnen“ ist ein Buch das gefangen nimmt, hautnah doch unaufdringlich, dennoch ganz dicht und intim beim Leser.
 
Hanns-Josef Ortheil – „Schwebebahnen“
Roman
© 2025 Luchterhand Literaturverlag, 320 Seiten, gebunden, Schutzumschlag, Lesebändchen
ISBN:
24,- €
 
Weitere Informationen: www.luchterhand-literaturverlag.de