Römische Elegien

Hanns-Josef Ortheil „Faustinas Küsse“

von Frank Becker
Römische Elegien
 
Hanns-Josef Ortheil „Faustinas Küsse“
 
Wer glaubt, Wuppertal sei nicht der Boden, auf dem literarische Talente wachsen, kann sich abermals durch ein hervorragendes Produkt aus der Schreibwerkstatt Hanns-Josef Ortheils eines Besseren belehren lassen.
Ortheil, 1951 in Köln geboren, wuchs in Wuppertal auf, besuchte hier die Schule - das Gymnasium bis Obertertia - und dann in Mainz bis zum Abitur 1970. Er studierte Germanistik, Philosophie, vergleichende Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft in Mainz, Rom, Göttingen und Paris und arbeitete nach seiner Promotion 1976 bis 1988 als Hochschulassistent in Mainz. Heute lebt er als freier Schriftsteller und Literaturdozent in Stuttgart.
Bereits 1979 wurde Ortheil für seinen Debütroman „Farmer“ mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Seither hat er eine Vielzahl Romane, Essaybände, philosophische und literaturwissenschaftliche Arbeiten u.a. veröffentlicht. Zeitgeschichtliche Themen bilden häufig den Hintergrund seiner Romane. Große Resonanz bekam er 1994 auf seinen autobiographischen Erzählband „Das Element des Elephanten - Wie mein Schreiben begann“. Ein genauer Beobachter, schildert Ortheil seine Berührung mit der Literatur, mit Hemingway, Thomas Mann, Arthur Rimbaud, seine Faszination, erste eigene Versuche, Erfahrungen, Erfolge, deren Fundament in seiner Wuppertaler Jugend lokalisiert werden kann.
 
Rom, Hanns-Josef Ortheils große Liebe, findet nun gebührenden Platz in seinem neuen Roman „Faustinas Küsse“: Am 29. Oktober 1786 trifft ein Reisender unter Pseudonym in Rom ein, der Kulturträchtigen Stadt am Tiber. Er schließt sich den deutschen Künstlerkreisen um Karl Philipp Moritz und Wilhelm Tischbein an und fällt durch die Getriebenheit, die ihn umgibt, dem jungen Römer Giovanni Beri auf, der ihn zu beobachten beginnt. Beri findet heraus, daß der beinahe besessen wirkende Fremde ein berühmter deutscher Schriftsteller ist, in dessen bekanntesten Werk sich am Ende ein „Mann in gelber Weste“ erschießt. Er besorgt sich den Roman in guter italienischer Übersetzung: „Die Leiden des jungen Werthers“ - wir haben es mit Johann Wolfgang Goethe zu tun. Daß Goethe, durch Ränke in Giovannis Lebenskreis gezogen, ausgerechnet ein Auge auf dessen Liebste, die schöne Faustina wirft und damit Glück hat, trifft Beri tief, macht ihn nahezu zum verzeifelnden Werther, während der steife und übereifrige „Nordmensch“ Goethe in den luftigen Rock des lebensfrohen Römers schlüpft. Als am Ende Goethe Rom hinter sich läßt, verläßt auch Beri seine Heimatstadt, aber nur, um sie auf Goethes Spuren quasi als Fremder neu zu betreten und zu erkunden.
Es ist eine witzige, ironische Geschichte, immer mit den Zehenspitzen auf dem Boden der Tatsachen, mit einem Augenzwinkern und fabelhaft erzählt - Dichtung und Wahrheit. Ortheils profunde Kenntnis der Goethezeit und ihres Personals machen den Roman zudem zu einem exzellenten historischen Lesevergnügen.
 
Hanns-Josef Ortheil - „Faustinas Küsse“
Luchterhand Literaturverlag, 350 S., geb. ISBN 3~63O-86974-2, 
DM 42,-