Eine Frage der Intelligenz (1)
Die Computer haben nicht nur in der Genetik immer größere Aufgaben zugewiesen bekommen. Sie treten inzwischen mit Menschen direkt in Konkurrenz. Neben deren natürlicher Schlauheit hat sich das etabliert, was im Jargon Künstliche Intelligenz heißt, KI auf Deutsch oder AI auf Englisch, Artificial Intelligence. Bevor dazu Fragen im Detail gestellt werden - Wie trägt die KI zur Verbesserung des allgemeinen Lebens bei oder hilft Menschen im medizinischen Sektor? Können Maschinen kreativ sein? -, sollen zwei grundlegende Fragen erlaubt sein, von denen die erste an die Genetik anschließt.
Bevor Computer ihre Arbeit aufnehmen, müssen sie programmiert werden. Das hat zu der Bemerkung geführt, daß auch Organismen programmiert sind. Man meint, die Qualität von Erbinformationen durch das genetische Programm beschreiben zu können, mit dessen Ablauf sie dem Leben ermöglichen, seinen Gang zu gehen. Doch hilft diese Metapher eines genetischen Programms? Hier wird die Ansicht vertreten, daß man damit scheitert, was daran liegt, daß es in den Maschinen eine eindeutige Beziehung zwischen einer Instruktion und ihrer Ausführung gibt, wie sie im Leben nicht zu finden ist. Die Information in der DNA wird linear (über einen Zwischenschritt) in die Reihenfolge der Bausteine eines Proteins übersetzt, aber wie diese Kette dann ihre funktionsfähige Struktur annimmt, hängt nicht mehr von der DNA, sondern von dem Milieu der Zelle ab, in der sich das Protein befindet. Hier wirken die Gesetze von Physik und Chemie, und dabei läuft bei aller vorhersagbaren Regelmäßigkeit kein Programm ab.
Gibt es eine geeignetere Metapher zum Verständnis all der Abläufe im sich entwickelnden und hervorbringenden Leben? Man könnte versuchsweise vorschlagen, daß ein Genom über Kreativität verfügt, wobei diese eher in der Kunst angesiedelte Fähigkeit als ein interaktiver Prozeß auf der Ebene der Gene und Proteine zu verstehen wäre, der das Vorhandene identifiziert und interpretiert, um anschließend nach evolutionären Vorgaben weiter auf ihm aufzubauen. Das Wachsen eines Embryos und die Entstehung seiner Formen lassen sich nach dem Modell eines Schöpfungsvorgangs verstehen. Vielleicht entstehen Lebensformen dank der Gene so, wie die Werke von Malerinnen und Malern entstehen. Sie beginnen mit einer Vorstellung im Kopf, ihre Fortführung aber hängt von den Ergebnissen ab, die im Laufe der Bildentstehung auf der Leinwand sichtbar werden. Bei der Embryonalentwicklung fängt der Prozeß mit genetischen Vorgaben im Kern der Zelle an, und seine Fortführung hängt von den Bildungen ab, die im Laufe der Zeit entstehen, die von der Umwelt registriert werden und auf das sich bildende und gebildete Leben zurückwirken.
Wichtig ist dabei ein zentraler Punkt, der sich wie folgt formulieren läßt: Wer die Entstehung eines Bildes beschreibt und dabei Machende von dem Gemachten trennt, geht an der Sache vorbei. Genau dies gilt auch für die biologische Entwicklung. Bei ihrer Beschreibung sollte man nicht versuchen, das Bildende von dem Gebildeten zu trennen, weil die Gene und ihre Produkte in kontinuierlicher Wechselwirkung stehen. Mit einem Wort: Gene agieren kreativ. Die Gesamtheit der Gene - das Genom - verfügt über Kreativität. Kein Wunder, daß zuletzt eine schöne Gestalt herauskommt.
Zunächst zögert man bei dem Gedanken, die Tätigkeit eines Malers und das Treiben der Gene zu vergleichen. Doch das Konzept des Malstils macht deutlich, daß auch der kreative Künstler nicht über jede Freiheit verfügt hat und ähnlich gebunden wie das Genom ist. Leonardo da Vinci war sicher ein kreativer Mensch, aber er hatte seinen Stil und von dem kam er nicht ohne weiteres los. Bei seiner Arbeit an der Staffelei ist immer ein «da Vinci» und nie ein «Raffael» oder gar ein «Picasso» entstanden. Dem Malstil entsprechen die kreativen Muster von genetisch produzierten Masterproteinen. Sie sorgen dafür, daß sich aus einem Fliegenei immer nur eine Fliege und niemals eine Maus entwickelt.
Funktioniert die Metapher aber wenigstens in die andere Richtung? Wenn das Leben schon nicht genetisch programmiert ist, ist dann die künstliche Intelligenz wenigstens intelligent in einem menschlichen Verständnis?
Teil 2 des dreiteiligen Artikels am kommenden Sonntag
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
© 2023 C.H. Beck
Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
|