Eine Frage der Intelligenz (2)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Eine Frage der Intelligenz (2)
 
Zunächst einmal ist zu konzedieren, daß programmierte Maschinen schon viele Aufgaben übernehmen können, für deren Bearbeitung Menschen oft sehr lange brauchen und die sie nicht ohne Fehler bewältigen - Flüge buchen, Gleichungen lösen, Schach spielen, Texte speichern und übersetzen, Röntgenbilder analysieren und E-Mails senden. Doch das heißt nicht, daß die Apparate denken können oder intelligent sind. Der Philosoph Markus Gabriel hat dazu geschrieben: «Computer denken letztlich ebenso wenig wie die guten alten Aktenordner unserer analogen Bürokratie.» Und zwar deshalb, weil sich Denken «nicht ohne einen geistigen Anteil» verstehen läßt. Der aber ist menschengemacht, wie der Philosoph versichert und wie einem durchaus einleuchtet. Damit ist unter anderem gemeint, daß die Computer zwar schnell rechnen können, aber nicht wissen, daß dabei Zeit vergeht und ihr Ergebnis für eine Zukunft gebraucht wird und erst in ihr zum Tragen kommt. Intelligent sein heißt, eine gute Entscheidung für kommende Situationen zu treffen, also zwischen neuen und alten Konstellationen zu unterscheiden - im Wort Intelligenz steckt das lateinische «inter», was «zwischen» meint. Das kann eine Maschine schlicht und einfach nicht. Sie plant nichts im Voraus und führt nur zuverlässig aus, was ihr ein Programm jetzt aufgetragen hat - wobei die Anmerkung erlaubt sei, daß die menschliche Intelligenz sich erst im Heranwachsenden entwickeln muß und Kinder bis zum zweiten Lebensjahr nahezu ausschließlich in der Gegenwart leben. Auch danach dauert es immer noch lange, bis sie verstehen, was mit «gleich“, «sofort“ und «bald“ gemeint ist - was ja auch Erwachsenen zuweilen schwerfällt, je nachdem wie eilig sie es haben. Für Vier- bis Fünfjährige - so sagen es die Kinderpsychologen und wissen es die Eltern - gibt es Zeit nur, wenn etwas passiert - und bei Maschinen ereignet sich schlichtweg nichts. Die Meister der Algorithmen wissen nicht, daß sich das ändern kann. Sie ahnen es nicht einmal.
       Der Begriff «KI» ist in der Mitte der 1950er Jahre aufgekommen, als die Computer erstmals die elektronische Datenverarbeitung beherrschten und mit der Programmiersprache FORTRAN - FORmal TRANslation - instruiert werden konnten. Sie mußten damals noch auf Festplatten mit Megabyte Speicherplatz verzichten, und auf die Frage, wie sich ein Flugzeug am besten abbremsen läßt, haben sie unter dem hämischen Grinsen der Kritiker zum Beispiel mit dem Rat «durch einen Aufprall» geantwortet. Trotzdem begann in dieser Zeit das Wort Algorithmus Karriere zu machen, womit eine endliche Reihe von Anweisungen gemeint ist, denen ein Computer folgt, um eine ihm gestellte Aufgabe zu lösen oder Berechnungen durchzuführen.
Falls sich jemand fragt, woher das Wort Algorithmus stammt, und erwartet, daß man ihm einen lateinischen oder griechischen Ursprung nennt, wird sich womöglich darüber wundern, daß der Ausdruck durch sprachliche Abschleifung des Namens von Muhammed Al-Chwarismi zustande gekommen ist, einem arabischen Mathematiker, der um 825 ein Buch mit dem Titel Über das Rechnen mit indischen Ziffern vorgelegt hat. Dort stellte er systematisch dar, wie man verwickelte Rechenaufgaben Schritt für Schritt bewältigen und Gleichungen lösen kann. Das Buch wurde später «Al-Chwarismi sagt» genannt, und daraus hat sich der moderne Begriff «Algorithmus» entwickelt.
       Heutige Algorithmen basieren auf dem, was die Zunft neuronale Netze nennt. Damit sind elektronische Verschaltungen gemeint, deren Konstruktion von der Anatomie des menschlichen Gehirns inspiriert ist und mit denen die Ingenieure das hinbekommen, was als «deep learning» bezeichnet wird. Diese Qualität zeigen neuronale Netze, die aus vielen Schichten bestehen. Mit diesen beiden Entwicklungen gelingt es, Lungenkrebsdiagnosen ebenso wie das Erkennen von Gesichtern und das Entlarven von illegalem Fischfang hinzubekommen - Beispiele, die die erstaunliche Bandbreite der maschinellen Leistungsfähigkeit andeuten sollen.
 
Teil 3 des dreiteiligen Artikels am kommenden Sonntag
 
aus: „Warum funkeln die Sterne?“
Die Wunder der Welt wissenschaftlich erklärt
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Veröffentlichung in den Musenblättern mit freundlicher Erlaubnis des Autors.