Nichts ist mehr normal
Bahn soll Züge absichtlich ausfallen lassen
Von Lothar Leuschen
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen, sagt der Volksmund. Wenn er mit der Deutschen Bahn reist, dann sind das in aller Regel Horrorgeschichten. Entweder fährt der Zug zu spät los oder gar nicht, oder er kommt zu spät an oder gar nicht. Die Bordküche funktioniert nicht oder einige Toiletten. Und wenn zu viele WCs streiken, dann muß der Zug anhalten, müssen alle Fahrgäste aussteigen. Alltag im mobilen Deutschland und wirklich schlimm genug. Es geht aber noch schlimmer, sollte sich bewahrheiten, was am Freitag ans Licht der Öffentlichkeit drang und von der Gewerkschaft der Lokomotivführer bereits bestätigt wurde. Demnach läßt die Bahn absichtlich Züge ausfallen, um ihre miserable Pünktlichkeitsstatistik zu frisieren. Denn darin werden nur solche erfaßt, die mehr als sechs Minuten über Fahrplan eintreffen. Kommen sie gar nicht an, tauchen sie in der Statistik nicht auf. Das erinnert zwar ein bißchen an eine Bananenrepublik, aber so ist es geregelt in Deutschland. Und das Chaos-Unternehmen Bahn AG nutzt das womöglich aus.
Am Wochenende soll Gerüchten zufolge verkündet werden, wer Richard Lutz an der Spitze des deutschen Unternehmens ersetzt, von dem die Mobilität einer ganzen Volkswirtschaft entscheidend abhängt. Daß sich überhaupt noch jemand für das Himmelfahrtskommando findet, muß mit dem Jahressalär zu tun haben. Eine Freude kann es jedenfalls nicht sein, sich diesem Abenteuer zu stellen. Denn die oder der Neue trifft nicht nur auf eine marode Infrastruktur, es scheint auch ein paar Trickser und Täuscher zu geben, denen es egal ist, wie sie die Zahlen aufbessern, für die sie verantwortlich sind. Zur Not fallen eben Züge aus, die eigentlich nebst Passagieren an ihr Ziel hätten kommen können. Sollte die neue Spitzenkraft durchgreifen wollen, gäbe es hier einen Ansatz. Denn das Verhalten der Trickser hat schon viel Betrügerisches. Sie enthalten zahlenden Kunden die eingekaufte Leistung vor, sie schädigen das eigene Unternehmen durch fällige Ersatzleistungen unmittelbar und durch Vertrauensverlust strukturell. In normalen Unternehmen führt so etwas zu fristlosen Kündigungen. Aber was ist bei der Bahn schon normal?
Der Kommentar erschien am 20. September in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
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