Kein Grund zu feiern

35 Jahre Deutsche Einheit

von Lothar Leuschen​

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Kein Grund zu feiern
 
35 Jahre Deutsche Einheit
 
Von Lothar Leuschen
 
Die Ernüchterung ist latent. Sie spiegelt sich in Umfrage- und Wahlergebnissen wider. 36 Jahre nach dem Fall der Mauer, 35 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist Katerstimmung die vorherrschende Gemütslage. In der Liste der Versäumnisse, der Fehlentscheidungen und Fehlentwicklungen steht die Zusammenführung der beiden Deutschlands ganz oben. Wer heute von einer neuen Zweiteilung spricht, der hat auf den ersten Blick absolut recht. Politisch ist Deutschland wieder zweigeteilt. Die Bundestagswahl im Februar offenbarte eine blaue Zone, die haargenau dort endet, wo einst der sogenannte antifaschistische Schutzwall verlief.
 
Zur Wahrheit gehört allerdings auch, daß in den neuen Bundesländern die als rechtsextremistisch eingestufte AfD zwar stärkste politische Kraft ist, absolut aber lebt der Großteil ihrer Wähler im Westen. Die Gründe für den wachsenden Zuspruch sind hüben wie drüben dieselben. Bürgerinnen und Bürger verlieren das Vertrauen in den Staat. Sie glauben nicht mehr daran, daß Parlamente und Verwaltungen den Alltag in ihrem Sinne regeln. Im Osten ist die Entfremdung allerdings weiter vorangeschritten, weil sie bereits wenige Jahre nach der Wiedervereinigung begann. Für viele Ostdeutsche war das keine Vereinigung, sondern ein Anschluß unter dem Diktat des Westens. Die DDR ist in jeder Hinsicht, auch wirtschaftlich und industriell, abgewickelt worden. Es ist nicht verwunderlich, daß sich so viele Bewohner der neuen Bundesländer nicht mit dem Deutschland identifizieren, das 1990 entstanden ist.
 
Deshalb braucht Deutschland eine Generalrevision, politisch wie gesellschaftlich. Politiker müssen die Fähigkeit entwickeln, dem Volk im Osten wie im Westen aufs Maul zu schauen und daraus ein politisches Handeln ableiten, das die Unterschiede ausgleicht, die es zwischen West und Ost heute noch gibt. Das gilt materiell wie ideell. Davon ist Deutschland heute weit entfernt. Deshalb ist der Tag der Einheit kein Grund zu feiern, sondern Aufforderung, wirkliche Einheit zu erzeugen.


Der Kommentar erschien am 2. Oktober in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
 Redaktion: Frank Becker