Kalenderblatt

zu Friedrich Nietzsches Geburtstag

von Michael Zeller

Friedrich Nietzsche, 1882
Kalenderblatt 
zu Friedrich Nietzsches Geburtstag
 
Als Nietzsche von seiner Mutter in der Irrenanstalt von Jena besucht wurde, irrten seine Augen eine Weile um ihre Gestalt herum, das Gesicht, ihr Schauen, bis sie sich beruhigten in einer Art von Erkennen. In der Hand hielt er, abgestreckt von sich, ein paar zerknitterte Zettel. Er hatte sie wohl wieder irgendwo mitgehen lassen. Kein benutztes Briefkuvert, kein Stummel von einem Bleistift war mehr sicher vor ihm. Die Gier zu schreiben, jeden Splitter eines Gedankens festzuhalten, wo immer er stand und saß und ging – der Reflex zu schreiben war ihm geblieben, seit Jahrzehnten eingelegt in die Motorik seines Körpers.
Nur die Gedanken erreichten ihn nicht mehr aus dem All des Ungedachten.
„Professor Friedrich Nietzsche“ stand auf dem Schnitzel grauen Packpapiers einer Brötchentüte, oder „Caesar!“
Lobte ihn die Mutter, mit einem Lächeln, mit ihren Augen, einem Wort – wie nur sie es konnte, dann wuchs der Anstaltsinsasse aus sich heraus, hob den Kopf hoch, den Blick, und zeigte über die düstere Stube für Besucher in der Haltung eines Feldherrn vor dem Angriff hin:
„Siehst du, hier halte ich meine Lesungen vor ausgewähltem Publikum!“
 
 
Michael Zeller