Tag der offenen Schublade

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Tag der offenen Schublade
 
Seit Jahren ist es das Haßwort des Jahres: Schublade. Längst darf es nur noch mit einem „nicht“ davor benutzt werden. Egal, ob es um Kunst geht oder um Politik, um Leute oder um Mode. Oder ums Kochen oder um das Gedudel im Radio. „Die Bücher des Dichterfürsten XY passen in keine Schublade“, heißt es zum Beispiel. Und die Outfits des Modezaren YZ passen da erst recht nicht rein. Und die Hits der Pop-Püppchen Ä und Ö und Ü schon gleich gar nicht - in die Schublade nämlich: Passen da nicht rein, alle nicht! In überhaupt keine Schublade! Nie! Und gar nicht anders dürfen korrekte Sätze heute lauten.
       Richtig Probleme gibt es, wenn so ein Satz auch nur ein einziges Mal fehlt. Im Radio oder in der Zeitung: He da, ihr Schmierfinken, warum habt ihr nicht geschrieben, daß ich in keine Schublade passe? Das ist noch die mildeste Beschwerde eines gekränkten Künstlers. Denn die Reaktion auf den fehlenden Satz kann noch viel drastischer ausfallen: Etwa in Form einer Backpfeife oder eines dunkelblau kolorierten Auges beim Gegenüber des betroffenen Genies - nach der nächsten Begegnung in einer dunklen Ecke. Oder der Künstler, dem so ein Unrecht geschehen ist, übt Vergeltung, indem er die nächstbeste Schublade, in die er nicht reinpassen will, auf dem Kopf seines mutmaßlichen Verleumders in Stücke haut.
       Doch zum Glück gibt es inzwischen die Geheime Sprachpolizei. Die ist übrigens derart geheim, daß zigtausende Geheime Sprachpolizisten nicht mal selber wissen, daß sie welche sind. Gar nicht geheim, vielmehr offenkundig ist dagegen ihre Aufgabe, auf die Einhaltung der vielen neuen Sag-, Klag-, Frag- und Nennverbote zu achten. Doch damit ist es auf Dauer nicht getan. Die Geheime Sprachpolizei wird künftig auch strengstens die penible Verwendung vorsorglicher Zusätze zur Vermeidung von Mißverständnissen kontrollieren: Also von Zusätzen wie paßt in keine Schublade. Auch der Nachsatz läßt sich nicht in Schemen pressen ist wohl schon demnächst gerichtlich einklagbar. Ersatzweise können Schubladen-Opfer für sich dann auch die Formel entspricht keinem gängigen Muster verlangen: als Minimum. Beurteilungen, Rezensionen, Empfehlungsschreiben oder Kulturradio-Beiträge, in denen der obligatorische Keine-Schublade-Passus fehlt, sind damit natürlich auch rückwirkend ungültig. Sie müssen umgehend gelöscht, vergessen, eingestampft oder am nächsten öffentlichen Musen-Marterpfahl heulend und zähneklappernd widerrufen werden.
       Es sei denn, es gelingt endlich eine Ehrenrettung des derart verrufenen, ja gemobbten Möbelteils. Zum Beispiel durch einen gezielten Popularitätsschub für Schubladen. Aber wie kriegt man den hin? Vielleicht mit einem Tag der offenen Schublade? Der könnte Schwellenängste beim Betreten von Schubladen abbauen - ebenso wie die immer noch weit verbreiteten Vorurteile gegen Schubladen-Insassen. Die Frage ist nur, ob dann alles und alle, die bislang gegen ihren Willen in Schubladen gesteckt und darin festgehalten wurden, unverzüglich rausgelassen werden sollen. Oder gar müssen? Dagegen würde sich wohl bald schon unter allen Wohlmeinenden eine Bedenkenfront formieren. Schließlich kann es ja nicht der Sinn der Sache sein, eine tsunamihohe Welle von Schubladen-Flüchtlingen auszulösen. Vielmehr müßte man den Opfern dann Hilfe vor Ort angedeihen lassen.
       Und wie soll das alles weitergehen? Zuerst muß die Standard-Kulturschublade überall so umgestaltet werden, daß selbst der größte Künstler noch hochkant in sie hineinpaßt. Das eigentliche Ziel ist aber erst dann erreicht, wenn Kunstverrisse in aller Welt mit folgendem Satz enden: Der Künstler paßt in keine Schublade - schade!
 
 
© Detlef Färber