Wuppertals Visitenkarten
Offen gesagt
Von Lothar Leuschen
Da war es wieder, das Vorurteil. Ein paar Fernsehbilder, eine Geschmacksumfrage – und schon steht Wuppertal wieder als Schmuddelkind unter den 20 größten Städten Deutschlands da. Wie ungerecht das ist, wissen vermutlich alle, die in Elberfeld, Barmen, Beyenburg oder Ronsdorf leben. Aber die meisten anderen wissen es nicht. Sie haben im Zuge der Stadtbild-Debatte aus dem Kanzleramt nun vor Augen, wie die Poststraße aussieht. Und das ist gräßlich. Die einstige Prachtmeile erinnert wirklich an die Fußgängerzone von Dystopia. Das paßt natürlich prima zu einer aufgeheizten Diskussion darüber, wie sich wohl vor allem Frauen in deutschen Innenstädten fühlen. Dann die Universität. Sie ist zur häßlichsten weit und breit gewählt worden. Hand aufs Herz: Eine Schönheit ist das Bauwerk wahrlich nicht. Und doch ist es gut, daß Wuppertal sie hat. Nicht nur, weil das Land dringend Lehrpersonal braucht, das am Grifflenberg in anerkannt hoher Qualität ausgebildet wird.
Umso ärgerlicher ist, daß nun wieder die marode Poststraße das Bild von Wuppertal prägt. Dabei hat diese Stadt in Wirklichkeit ganz andere und deutlich realitätsnähere Visitenkarten. Und die gehen in ihrer Zahl weit über weltberühmte Künstler wie den Bildhauer Tony Cragg und den Filmregisseur Tom Tykwer hinaus und über beliebte Film- und Fernsehstars wie Ann-Kathrin Kramer, Harald Krassnitzer und Christoph Maria Herbst.
Daß Wuppertal beispielsweise zunehmend Zielort von Stadtführungen wird, hat eben nichts mit der Poststraße zu tun, sondern damit, daß Eigentümer ihre Fassaden für bemerkenswerte Kunstwerke zur Verfügung stellen. Die sogenannten Murals entwickeln sich mehr und mehr zum Publikumsmagneten. Gleichzeitig ist ein Tanzensemble im Namen Pina Bauschs regelmäßig weltweit unterwegs, um in ausverkauften Häusern zu dokumentieren, wie sehr Wuppertal die globale Ballettszene verändert hat. Der Knabenchor der Kurrende verzaubert mit seiner Exzellenz Zuhörer überall in der Republik, während in Patrick Hahn ein immer noch verhältnismäßig junger Dirigent es wagt, Wagners Rheingold konzertant – und weithin anerkannt brillant auf die Bühne der Historischen Stadthalle zu bringen.
Die vielleicht ungewöhnlichste Visitenkarte dieser Stadt feierte jüngst auf der Bühne der Rudolf-Steiner-Schule Premiere. Das Vollplaybacktheater hat abermals ein Hörspiel der drei Fragezeichen inszeniert und geht nun auf eine Deutschland-Tournee, die in vielen Städten bereits restlos ausverkauft ist. Etwas Ungewöhnlicheres, Geistreicheres und Lustigeres gibt es vermutlich kaum in der nationalen Kulturszene – und das nun schon seit fast 30 Jahren. Im Gepäck hat das Ensemble übrigens immer Wuppertal, die Stadt, zu der es sich unüberhörbar bekennt.
Poststraße hin, Architektur der Universität her – all das sind kulturelle Visitenkarten einer lebendigen, wertigen und lebenswerten Großstadt. Und sie setzen den Vorurteilen etwas entgegen, die Wuppertal mangels erfolgreichen Stadtmarketings und vermutlich wegen der ungewöhnlichen Phonetik seines Namens plagen. Aber die Visitenkarten wirken und sie zeigen, was lebendige Kultur wert ist. Sie schafft Begegnungen, sie schafft zumeist positive Stimmung, sie stiftet Identität – über Altersgrenzen und Nationalitäten hinweg.
Demnächst wird sich das politische Wuppertal wieder darüber auseinandersetzen müssen, wie die zu geringen finanziellen Mittel in den nächsten zehn Jahren verteilt werden. Angesichts des Bildes, das die Poststraße zuletzt wieder von dieser Stadt erzeugt hat, sollte sich jeder die überdurchschnittliche kulturelle Qualität Wuppertals vor Augen führen, ehe er den Rotstift an der gänzlich falschen Stelle ansetzt. Bessere Botschafter als die vielen Kunstschaffenden hat diese Stadt nicht.
Der Kommentar erschien am 25. Oktober in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.
Redaktion: Frank Becker
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