Aus der Geschichte lernen?

Heinrich August Winkler – „Warum es so gekommen ist“

von Johannes Vesper


Aus der Geschichte lernen?
 
Heinrich August Winklers Erinnerungen
 
Memoiren im engeren Sinne sind es nicht. Im Gegensatz zu einer Autobiographie berichtet der bekannte Historiker nicht streng chronologisch über sein Leben. Im ersten Kapitel seiner Erinnerungen stellt er sich unter dem Titel „Geschichte in praktischer Forschungsabsicht“ zunächst vor, berichtet über seine Eltern in Königsberg -beide promovierte Historiker- und erzählt, wie er kurz vor Ende des Krieges nach Urspring bei Ulm kam. Dort hatte die verwitwete Mutter eine Stelle als Lehrerin gefunden. Als Gymnasiast leitete Winkler bereits in Ulm das Politische Seminar der Ulmer Jugend, knüpfte Kontakte zur Politik und diskutierte u.a. mit Fritz Erler, Otto Suhr, Robert Schuman. Von der Schule wurde er stark geprägt, unter anderem durch eine Bildungsreise nach Oberitalien, und war dankbar, für das, was ihm an Bildung vermittelt worden war. Erst später wurde ihm der national- konservative Aspekt dieser Bildung bewußt, dessen erwachsene Vertreter den Aufstieg Hitlers und die Zerstörung der Weimarer Demokratie zuvor weder thematisiert, geschweige den verhindert hatten.
Im 2. Kapitel werden politische Interventionen und Kontroversen abgehandelt und im 3. Begegnungen und Erlebnisse.
 
Interessant an der Lektüre sind geschichtliche Rückblicke, die zeigen, daß heutige Diskussionen und Positionen durchaus vor dreißig oder vierzig Jahren schon aktuell waren - etwa die Frage nach der „westlichen Wertegemeinschaft“. Haben die USA und Europa tatsächlich die gleichen Werte? Oder bedeutet die Entwicklung des Sozialstaates, den es nur in Europa und nicht in den USA gibt, schon eine intellektuelle Trennung mit bereits seit Jahrzehnten signifikant unterschiedlicher politischer Kultur. War auch der Irak-Krieg der USA 2003 ein Meilenstein auf dem Weg zum Bruch der westlichen Wertegemeinschaft? Ist er als Ausbruch imperialistischer Grundhaltung zu verstehen? Und ist Donald Trump also eigentlich ein ganz neues Phänomen? Weitere alte Fragen – wie die einer EU-Erweiterung nach Osten oder den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (Beginn 2005) - sind bis heute ungelöst.
Ungewöhnlich, aber nachvollziehbar ist seine Überlegung zu den Grundlagen des „Westens“: Die Keimzelle der verfassungsgemäßen Gewaltenteilung führt Winkler zurück auf Jesu Wort: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“. Damit beginne die Säkularisierung der westlichen Welt, die im Investiturstreit des Mittelalters erstmals zu einem hochpolitischen Thema wurde, jedoch im byzantinisch-orthodoxen Osten nie diskutiert wurde.
 
Mit zahlreichen Zeitungsartikeln in den großen deutschen Zeitungen hatte Winkler lange in die Politik hineingewirkt, hatte seine Partei gewarnt vor dem Linkskurs Oskar Lafontaines nach dessen Putsch gegen Scharping 1995. Die Partei könne am linken Spektrum nie so viele Wähler gewinnen, wie sie in der Mitte verliere. Die unterschiedliche Entwicklung der politischen Kultur in DDR und BRD wird sachkundig kommentiert. Daß der 68er Aufstand in der DDR nicht stattgefunden hat, könnte ein Grund dafür sein, daß noch heute die Gebiete der ehemaligen DDR politisch anders ticken. Auch zum politisch motivierten, heute oft veranlassten Umbenennen von Straßen und Plätzen nimmt der Autor Stellung. Politische Wirksamkeit entfaltete er der politische Wirksamkeit nicht zuletzt durch Gespräche, oft beim Abendessen (Kissinger, Merkel, von Weizsäcker, Johannes Rau u.a.). Bezüglich des aktuellen Krieges in Europa zitiert Winkler „si vis pacem, para bellum“- wer den Frieden will, muß den Krieg vorbereiten. Paradox? Seit der Antike ist jedenfalls die Verhinderung von Kriegen ein großes Thema und die Diskussion darüber sehr aktuell.
 
Der Autor saß und sitzt also überall anders als im Elfenbeinturm abgehobener Wissenschaft. Schon immer wollte Winkler über sein Publikum in der wissenschaftlichen Fachwelt hinaus an Geschichte und Politik erreichen. Das ist ihm mit diesem Buch gelungen. Die Fülle des geschichtlichen Materials und der politischen Aspekte ist in einer Besprechung nur anzureißen. Dieser gut lesbare, kompetente Kommentar zur deutschen Nachkriegsgeschichte bietet fundierte Anregungen für Wähler wie für die politische Klasse und trennt die politische Diskussion vom Stammtisch. Bezüglich der Zukunft des Westens und seiner politischen Freiheit helfe Fatalismus nicht weiter. Es komme auf den Zusammenschluß und die gemeinsame Verteidigungsbereitschaft der westlichen Demokratien an, nicht zuletzt der Bundesrepublik Deutschland ab, schreibt der Historiker am Ende.
 
Heinrich August Winkler – „Warum es so gekommen ist“
Erinnerungen eines Historikers.
© Verlag C.H. Beck 2025, 288 Seiten, Gebundene Ausgabe, 27 Abbildungen - ISBN 978 3 406 83631 2
30,- €
 
Weitere Informationen: www.chbeck.de