Wenn Wörter sterben

Jochen A. Bär eröffnet Ringvorlesung „Wissen ermöglicht Wandel“ an der Universität Vechta

von Friedrich Schmidt

Prof. Dr. Jochen A. Bär - Foto: Friedrich Schmidt

Wenn Wörter sterben
 
Germanist Prof. Dr. Jochen A. Bär eröffnet Ringvorlesung
„Wissen ermöglicht Wandel“ an der Universität Vechta
 
Wörter als Spiegel der Kulturgeschichte; Aussterben der historischen Sprachwissenschaft; Kritik am Zeitgeist-Enthusiasmus für KI-Systeme; ganz im Sinne der Tiefenanalyse der germanistischen Sprachwissenschaft: Was Prof. Dr. Jochen A. Bär während seines Eröffnungsvortrags der Ringvorlesung „Wissen ermöglicht Wandel“ an der Universität Vechta präsentierte, war ein Plädoyer für das kritische Hinterfragen moderner Prozesse und ein Hinweis auf den bevorstehenden Untergang einer ganzen Fachdisziplin.

Bär beleuchtete in seinem Vortrag unter dem Titel „Wandel ermöglicht Wissen – sprachliche Umbrüche und ihre Folgen“ die untrennbare Verbindung zwischen der Geschichte der Wörter und der Geschichte unseres Denkens: „Wörter – das ist keine neue oder auch nur irgendwie besondere Erkenntnis – sind ein Spiegel der Kulturgeschichte“, so der Universitätsprofessor. In einer systematischen Analyse der historischen Sprachstufen des Deutschen – Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch, Frühneuhochdeutsch und Neuhochdeutsch – zeigte Bär auf, wie radikal sich der Wortschatz über 1200 Jahre verändert hat. Die quantitative Vervielfachung des Vokabulars sei dabei weniger aufschlußreich als die qualitative Verschiebung. Vom Wortschatz des Althochdeutschen blieb im Neuhochdeutschen nur ein Bruchteil übrig. Die Konsequenz: „Wir verzeichnen einen Neuwortschatz im Neuhochdeutschen von über 80 Prozent“. Dieser massive Wandel lege sogenannte Verstehensgrenzen offen, wodurch ältere Texte, auch beispielsweise solche aus dem Neuhochdeutschen, das immerhin bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reiche, für heutige Leser nur noch bedingt zugänglich seien.
       Die Betrachtung der Wortgeschichte demonstriere aber, wie sich das Wissen und die Mentalität einer Sprachgemeinschaft im Wortschatz manifestieren. Bär gab dafür mehrere Beispiele – unter anderem zum Thema Hygiene: Im Althochdeutschen existierten nur wenige Ausdrücke für den Ort der Notdurft, so das Wort feldgang, das den Abzugsgraben, die bedeckte Gosse oder Kloake bezeichnete. Im Frühneuhochdeutschen hingegen gab es bereits ein Dutzend verschiedener Ausdrücke für diese Örtlichkeiten, was auf eine größere gesellschaftliche Relevanz und möglicherweise auf geschlossene, häusliche Räumlichkeiten hindeute (z. B. das heimlich gemach).
       Einen signifikanten Bewußtseinswandel dokumentiere auch die Ersetzung der Richtungs-Beschreibung: Die älteren Wörter zeso (›rechts‹ oder auch ›rechtlich‹ bedeutend) und winstar (›links‹, auch ›günstig‹, verwandt mit Wörtern wie Wonne und Gewinn) wichen den heutigen Bezeichnungen rechts und links. Während rechts weiterhin Aspekte des Richtigen und Anständigen betont, sei links mit negativ konnotierten Wörtern wie link oder linkisch verbunden. Dieser Wandel dokumentiere eine Abwertung der linken Körperhälfte und gehe vermutlich mit dem Kampf der Kirche gegen heidnische Überzeugungen einher – unter anderem das Glückbringen eines von links kreuzenden Tieres, so Bär.
       Auch die berühmte Szene aus Goethes Faust, lese sich durch die historische Wortbedeutung neu: Faust: „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“. Gretchen: „Bin weder Fräulein, weder schön, kann ungeleitet nach Hause gehn.“ Um Gretchens intelligente Reaktion zu verstehen, müsse man wissen, daß schönfrau historisch gesehen eine Prostituierte meinte, womit Fausts Auftritt als „ziemlich plumpe Anmache“ entlarvt wird.
Bär betonte die „Notwendigkeit“ der historischen Semantik im Kontext der vorhergehenden Beispiele, doch „allmählich sterben die ausgebildeten Lexikographen aus. Wenn meine Generation weg ist, haben wir niemanden mehr, der kompetent historische Wörterbücher machen kann“. Als Grund für diesen Schwund nannte Bär die Verschiebung der universitären Schwerpunkte: Man widme sich heute in der Germanistik anderen Themen als historischer Grammatik oder Semantik.
       Gleichzeitig kritisierte Bär den „Zeitgeist-Enthusiasmus“ für digitale lexikalische Informationssysteme und den vermehrten Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in diesem Kontext. Er warnte eindringlich davor, sich auf maschinell generierte Daten zu verlassen: „Auf Knopfdruck entsteht aus einer Menge digitalisierter Quellen – auch bei noch so elaborierten Algorithmen – derzeit keine verläßliche, oder im besten Fall wortbezogene Interpretation!“. Künstliche Intelligenz müsse beim wissenschaftlichen Arbeiten permanent überwacht werden und dies sei schwierig, da die Algorithmen nicht offengelegt würden.
       Bärs dringender Appell an die Forschung und Politik lautete daher, „die Sicherung der historischen Großwörterbücher“ und die „institutionalisierte Weiterführung historiographischer Arbeit“ zu gewährleisten. Die Arbeit der Lexikografie sei unerläßlich, um das gesamte, vernetzte Wortuniversum zu erfassen. „Die gängige These vom Tod des traditionellen Wörterbuchs und seinem Ersatz durch digitale lexikalische Informationssysteme, die nur einen Teilwortschatz und niemals den Gesamtwortschatz abbilden, ist nicht akzeptabel.“ Die Wortgeschichte, so Bär, sei ein notwendiges Werkzeug in Zeiten großer Umbrüche, um selbstverständlich gewordene Perspektiven kritisch zu hinterfragen und zu fundieren.
 
Unter dem Titel „Wissen ermöglicht Wandel – Transformationen von Saalbetrieben im ländlichen Niedersachsen digital erforschen“ spricht Universitätsprofessorin Dr. Lina Franken am 11. November. Die Veranstaltung beginnt um 18 Uhr im Musiksaal (Raum F144a) der Universität Vechta, Driverstraße 22 - bei der Orientierung hilft die Campusmap: https://campusmap.uni-vechta.de/.
 
Mehr Informationen zur Ringvorlesung sind unter der folgenden Adresse zu finden: www.uni-vechta.de/wissen-ermoeglicht-wandel
 
Redaktion Musenblätter: Frank Becker