Auf Jules Vernes Pfaden
… als es noch weiße Flecken auf der Landkarte gab
Zwei ehemalige Schulfreunde, der durch ein Erbe wohlhabende Müßiggänger Jean-Louis de Vénasque und der mit seinem Leben unzufriedene Ingenieur Jacques Ceintras entwickeln nach Ceintras´ Idee einen Plan, mit einem zeppelinähnlichen, motorgetriebenen lenkbaren Luftschiff (anders als die 1897 gescheiterte windabhängige Ballonfahrt Andrées) als erste den Nordpol zu erreichen. Vénasque, um der Langeweile zu entgehen und als erster etwas zu sehen, was vor ihm noch nie jemand sah, Ceintras hingeben treibt der Wunsch an, sich Lorbeer ins Haar zu flechten und Ruhm auf seine Schultern zu häufen.
Am fiktiven nordrussischen Ort Kabanova bauen sie ihren „Ballon“ zusammen, verladen ihn auf die „Tjörn“ ein norwegisches Frachtschiff und starten schließlich am 26. August 1905 von der Südspitze von Franz-Josef-Land Richtung Nordpol. Die Überraschung ist groß, als sie den Pol erreichen und dort urbaren Boden, eine niedrige Fauna und Flora – und kleingewachsene, vernunftbegabte Polbewohner antreffen, die allerdings keine Ähnlichkeit mit der menschlichen Rasse aufweisen, sondern eher untereinander kannibalistischen (Anthropo-)Sauriern ähneln.
Von da an verlassen wir als Leser jedweden Boden von auch nur irgendwelcher Logik oder Zeitmessung. Wir müssen uns der nicht übermäßig präzisen Phantasie Derennes´ überlassen, dessen zeilenschindender Roman bald in Wahn und mörderische Gewalt abgleitet. Wahn ist auch das Element, das – hier ein geschickter Schachzug des Autors - sich wie ein violetter Nebel sich über beide Protagonisten auszubreiten beginnt, deren schließlicher Verbleib so nebulös ist wie die ganze Geschichte. Mit dem pfiffigen Trick, daß zwei Vermittler des Expeditionsberichtes auftreten, enthebt sich Derennes selbst als Erzähler der Verantwortung für Wahrhaftigkeit der angeblichen Überlieferung des Abenteuers durch einen Fund eines handschriftlichen Berichts Vénasques in einem angespülten versiegelten Kanister.
Charles Derennes (1882-1930) ließ seinen 1907 aufgelegten Roman „Le Peuple du Pôle“ im Jahr 1905 spielen, dem Todesjahr seines legendären Landsmannes Jules Verne. Wie der visionäre Verne beschwört er einen Vorstoß ins Unbekannte, allerdings etwas weniger realistisch und spektakulär als Verne es konnte, hingegen mit der neuesten Entwicklung der Aeronautik im Rücken. Daß er sich dabei doch stark einerseits an Verne, andererseits an Andrée orientiert (man vergleiche nur die Proviantierung der echten und der Roman-Expedition), sei ihm verziehen. An Verne reicht eben niemand heran.
Nicht verzeihlich ist aber, daß der Autor auffällig nicht über die Herkunft und Herstellung der beschriebenen gigantischen Maschinen unter dem Pol spekuliert, hinter deren Herstellung und Funktion eine weit höhere Intelligenz als die der „Ungeheuer“ (im Original heißen sie peuple, also Volk oder Leute) stehen muß. Hier war der Autor offenbar überfordert. Daß sich die Menschen letztlich als die Ungeheuer der Geschichte erweisen, paßt allerdings zur ihrer historischen Rolle der Welteroberer.
Charles Derennes – „Ungeheuer am Nordpol“
(Le Peuple du Pôle)
Übersetzung aus dem Französischen von Dieter Meier
© 2025 Flur Verlag, 256 Seiten, Klappenbroschur, 9 s/w-Abbildungen, 2 Karten in den Umschlagklappen - ISBN: 9783989651036
22,- €
Weitere Informationen: www.flurverlag.de
|


